Limonow (German Edition)
man reich, wie nutzt man sein Potenzial. Die endlosen Diskussionen in den Küchen, die Verehrung für Dichter, das Prestige eines Verweigerers: All das ist vorbei. Diejenigen, die dem Kommunismus nachtrauern – und deren Anzahl Solschenizyn nicht zu ahnen vermag –, halten ihn für einen Kriminellen, die Demokraten für einen Ayatollah, die Literaturliebhaber sprechen über Das rote Rad nur mit hämischem Grinsen (sie haben es nicht gelesen, niemand hat es gelesen), und für die Jugendlichen ist Solschenizyn eine Figur, die auf dem Friedhof der sowjetischen Ikonen fast mit Breschnew durcheinandergerät.
Je lächerlicher man Solschenizyn macht, desto mehr blüht Eduard auf. Die Lewitins, die seine Jugend vergifteten, sind abgehängt: Der Bärtige wird unter seinen eigenen Moralpredigten begraben und Brodsky nur noch von Akademikern in Ehren gehalten, während er Oden über Venedig zusammenschustert. Eduard bemitleidet ihn fast: Venedig! Was für ein idiotisches Sujet! Die Glanzzeiten beider liegen hinter ihnen. Jetzt bricht die seine an, denkt er. Und in der Tat: Als er sein Leben in Frankreich aufgibt und sich wieder in Moskau niederlässt, stellt er fest, dass er hier berühmt ist. Seit der Veröffentlichung von Die Große Epoche durch Semjonow sind andere seiner Bücher erschienen, und zwar die skandalträchtigsten: Fuck off, Amerika , Die Geschichte seines Dieners und Tagebuch eines Versagers . Die richtige Auswahl. So etwas hat man in Russland noch nie gelesen, es verkauft sich zu Hunderttausenden von Exemplaren. Die Zeitungen sind von ihrer eigenen Verwegenheit hingerissen und verdoppeln die Reportagen über ihn, und er enttäuscht ihre Erwartungen nicht. Er bewohnt mit Natascha eine Art Hausbesetzerbude in einem geräumten, noch nicht wieder belegten Gebäude ohne Licht in den Gemeinschaftsräumen und ohne Geländer im Treppenhaus. In diesem abgerissenem Dekor, das die Fotografen begeistert, posieren sie beide in Leder und Sonnenbrille. In Frankreich wäre ein solcher Status eines Rockstars schwer mit dem eines ultranationalistischen Agitators zu verbinden, doch anders in Russland: Hier kann man für eine Zeitung schreiben, die immer wieder die Protokolle der Weisen von Zion wiederkäut, und gleichzeitig ein Idol der Jugend sein. Außerdem kann man, im Unterschied zu Frankreich, seine Bücher zu 200000 oder 300000 Exemplaren verkaufen und dennoch arm bleiben. Die »Schocktherapie« und das Chaos im Vertrieb reduzieren Eduards Tantiemen auf das Existenzminimum, aber das ist ihm im Grunde egal. Wenn es zwischen Geld oder Ruhm zu wählen gilt, ist es der Ruhm, der ihn interessiert; und auch wenn er als jüngerer Mann davon träumte, beides zu erlangen, weiß er jetzt, dass sein Schicksal ein anderes ist. Er lebt genügsam und spartanisch, verachtet alle Spielarten von Komfort und weit davon entfernt, sich durch die Armut, die ihn sein ganzes Leben lang begleitet hat, gedemütigt zu fühlen, bezieht er daraus einen aristokrati schen Stolz. Und doch sind es seine mageren Tantiemen, die in Ermangelung anderer Mittel die erste Nummer der Zeitung seiner Träume finanzieren.
In einem völlig größenwahnsinnigen Text, den er einige Jahre später schreibt, stellt er sich vor, wie sich zukünftige Historiker den alles entscheidenden Moment in der Geschichte Russlands ausmalen: die Geburt der Limonka im Herbst 1994. Jeder, schreibt er, wird später gern mit von der Partie gewesen sein wollen, doch tatsächlich waren in dem kleinen Büro, das Dugin bei der Zeitung Sowetskaja Rossija belegte, »nur der größte russische Schriftsteller und der größte russische Philosoph der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts« anwesend, sowie Natascha, die unter dem Pseudonym Margot Führer Artikel schrieb, ein paar sibirische Punks und einige Studenten Dugins, die sich gegenseitig mit irgendwelchem orthodoxen Gefasel beschimpften, und außerdem der treue Rabko, der sich um die Verwaltung kümmerte. In Rabkos Heimatstadt Twer fand man einen Drucker. Eduard und er fuhren mit der alten moldawischen Kiste hin, um die 5000 Exemplare der ersten Nummer abzuholen, und organi sierten ihre Verteilung. Verteilen, das hieß, sie entweder schwarz zu verkaufen oder die Bahnhöfe von Moskau abzuklappern und sie in Züge zu legen, die die großen Provinzstädte anfuhren . Man hoffte nicht unbedingt, dass die Leute sie kaufen, aber dass einige sie wenigstens aufschlagen würden, etwa so, wie man eine Flaschenpost öffnet. Eduard schildert die
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