Limonow (German Edition)
nicht zurückgezahlt hat, gehen die Geldgeber zur Kasse und bedienen sich. Das Fälligkeitsdatum liegt nach den Präsidentschaftswahlen, und so haben die Oligarchen ein vitales Interesse daran, dass Jelzin zu diesem Zeitpunkt noch Präsident ist und nicht irgendein Sjuganow, der zum Beweis seiner Tugend den ganzen Deal möglicherweise aufkündigt.
Der Zufall will es, dass sie sich dieser Gefahr beim Gipfel von Davos bewusst werden, wo sich die Superreichen und Supermächtigen des Planeten treffen. Denn nicht nur Sjuganow, den sie als einen lächerlichen kleinen Politiker betrachten, besitzt die Frechheit, 1995 nach Davos zu kommen, sondern auch ein Schwarm von Journalisten und Regierungsberatern, die um diesen herumschwirren und seine übrigens ganz gemäßigten Äußerungen mit einer Ehrerbietung aufnehmen, als handle es sich um den künftigen Herrscher über Russland. »Ach du Scheiße«, sagt sich Beresowski, der Prototyp eines Oligarchen, der Mann, den alle von ganzem Herzen hassen, so jüdisch, so genial und skrupellos ist er. Er geht ein Glas mit George Soros trinken, dem großen amerikanischen Financier, der in Russland gerade allerlei Stiftungen und Wohltätigkeitsprogramme erfindet. »Nun ja«, sagt Soros, »sieht so aus, als ob jemand im Begriff ist, euch den Kuchen wegzuschnappen, bevor ihr ihn unter euch aufgeteilt habt.«
»Sieht so aus«, seufzt Beresowski.
»Vielleicht schickt man euch sogar nach Sibirien«, fügt Soros süßlich hinzu. »Ich an eurer Stelle, Leute, ich wäre auf der Hut.«
Dieses Gespräch elektrisiert Beresowski, und er ruft stehenden Fußes die sechs anderen der mächtigsten Oligarchen Russlands auf ihren Handys an. Er schlägt ihnen vor, vorübergehend ihre Streitigkeiten zu vergessen (die spektakulärste davon ist die zwischen ihm selbst und Gussinski, ihre Privatarmeen töten sich gegenseitig im großen Stil) und ihre Kräfte zu sammeln, um dem alten Zaren zur Wiederwahl zu verhelfen. Alle sieben lassen ihre gesamte finanzielle und mediale Macht in die Kampagne fließen – und mediale Macht heißt: die Macht aller Medien. Alle Zeitungen, alle Radio- und alle Fernsehsender hämmern den Leuten diese Botschaft ein: Entweder Jelzin oder das Chaos. Entweder Jelzin oder der große Rückschritt. Und damit weder vergessen noch idealisiert wird, was der Kommunismus einmal war, werden jeden Tag vierundzwanzig Stunden lang bestürzende Dokumentarfilme über den Gulag gezeigt, über die von Stalin organisierte Hungersnot in der Ukraine oder über das Massaker von Katyn. Große Filmerzählungen über die Säuberungsaktionen werden finanziert, wie Die Sonne, die uns täuscht von Nikita Michalkow. Ich persönlich mag diesen Film sehr, aber ich kann mir die Wut vorstellen, die in Limonow aufgestiegen sein muss, falls er ihn sah. Er hatte schon immer etwas gegen Michalkow, diesen Erben einer großen Familie der kulturellen Nomenklatura, diesen Freund von Dissidenten, solange es nicht riskant ist, der es fertigbringt, unter allen Regimes beliebt zu sein und der ganz automatisch zum offiziellen Vorsänger der Konterrevolution wurde. Diese Datschas unter der Sommersonne, diese großen, glücklichen Familien, die friedliche Tage verbringen, und der hinterlistige Geheimdienstler, der aus ebenso viel Lust wie Fanatismus all dieses Glück zerschmettert: Es ist ein stalinistischer Film mit umgekehrten Vorzeichen, und wennschon, dann lieber gleich stalinistische Filme, findet Eduard. Die waren weniger durchtrieben und besaßen die Authentizität dessen, was man aus der eigenen Kindheit kennt.
Die Nazboly im Alter von Sachar sind genauso angewidert von diesem Ansturm von Propaganda, die alles negiert, was man sie zu lieben gelehrt hat, und die das Ideal, für das ihre Eltern gekämpft haben, mit dem Nazismus auf eine Stufe stellt. Was sollen sie mit ihrem Ekelgefühl anfangen, welche politische Form sollen sie ihm geben? Sie hätten gern, dass ihr Chef es ihnen sage, aber die Frage Jelzin oder Sjuganow ist für Eduard wie die nach Pest oder Cholera, und ihm fällt nichts Besseres ein, als sich dem »Stalinblock« an die Fersen zu heften – einem noch marginaleren Grüppchen als das seine –, um sich dann als Kandidat dieser absurden Koalition von einem gewissen Viktor Dschugaschwili ausstechen zu lassen, der nicht nur der Großneffe Stalins ist, sondern, Schnauzbart und Pfeife inklusive, sein Doppelgänger.
Da der zweite Wahlgang gekommen ist (zwischen dem ersten und dem zweiten hatte Jelzin
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