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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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Paul Klebnikov vor seiner Ermordung folgende These – und ich gebe mein Wort, dass er nicht im Mindesten Anhänger von Verschwörungstheorien war: Tschetschenien, das seit 1991 unabhängig war und von einem hastig zum Islam konvertierten Ex-Sowjetapparatschik regiert wurde, war sicherlich eine zollfreie Zone für die organisierte Kriminalität und eine Drehscheibe des Drogen- und Falschgeldhandels, doch auch wenn Russlands Anteil am Kuchen zu schrumpfen begann, kam es doch weiterhin auf seine Kosten und hatte nicht den geringsten Grund für eine sofortige Intervention. Dagegen gab es dringende Gründe, die im hohen Militärkommando herrschende massive Korruption zu vertuschen. Die Generäle hatten Unmengen von Waffen, Munition und vor allem Panzern auf dem Schwarzmarkt verkauft; sie brauchten also irgendwo einen großen Konflikt, damit diese spurlos verschwundenen Rüstungsgüter als offiziell zerstört betrachtet werden konnten.
    Ob dieser Aspekt so entscheidend gewesen war wie Paul meinte oder nicht – jedenfalls ließ sich die Armee nicht lumpen. Während es bei der Belagerung Sarajewos zu Spitzenzeiten 3500 Detonationen am Tag gab, waren es im Dezember 1994 zu Beginn der Belagerung von Grozny 4000 pro Stunde. Die Stadt wurde so vollständig zerstört wie Vukovar. Doch die Tschetschenen, getreu dem Ruf, mutig und grausam zu sein, den ihnen die russischen Literatur seit zwei Jahrhunderten attestiert, antworteten mit einem gnadenlosen Guerillakampf; sie begannen, russische Soldaten in ihren Panzern zu grillen und blutige terroristische Akte auf russischem Territorium zu verüben, und die 40000 eingezogenen Jugendlichen, darunter Sachar Prilepin, denen man einen siegreichen Blitzkrieg und eine triumphale Heimkehr versprochen hatte, fanden sich in etwas ähnlich Grauenhaftes verstrickt wieder wie ihre Väter und älteren Brüder in Afghanistan. Seit Gorbatschow 1988 seine Truppen von dort abgezogen hatte, war nur sechs Jahre lang Frieden gewesen zwischen zwei schmutzigen Kriegen, aus denen die jungen Russen verkrüppelt, erniedrigt und traumatisiert zurückkehren – wenn sie zurückkehren. Der zu seinen Anfängen so geliebte Jelzin wird jetzt noch mehr gehasst als sein Vorgänger, und die Präsidentschaftswahlen scheinen für ihn derart düster auszusehen, dass er ernsthaft darüber nachdenkt, sie abzusagen. Denn, wie ihm der Tonton Macoute Korjakow in der Sauna immer wieder sagt: »Boris Nikolajewitsch, die Demokratie ist ja gut, aber ohne Wahlen ist sie sicherer.«
    Zur Alternative steht diesmal nicht ein Schmierenkomödiant wie Schirinowski, sondern gleich ein Kommunist. Fünf Jahre zuvor hatte Jelzin die Kommunistische Partei für verboten erklärt. Man hatte dieses entsetzliche und großartige Experiment, das in der Sowjetunion an der Menschheit verübt worden war, für definitiv beendet gehalten. Und nun, nach nur fünf Jährchen Erfahrung mit der Demokratie, gehen alle Umfragen in die gleiche Richtung, und man muss sich dieser irritierenden Tatsache stellen: Die Leute können nicht mehr, sie haben dermaßen genug von der Demokratie, dem Markt und der damit einhergehenden Ungerechtigkeit, dass sie sich anschicken, massiv für die kommunistische Partei zu stimmen.
    Ihr Leader, Sjuganow, beabsichtigt nicht, den Gulag wieder aufzumachen oder die Berliner Mauer wieder aufzubauen. Unter dem Eti kett »kommunistisch« verkauft dieser unscheinbare, vorsichtige Politiker weniger die Diktatur des Proletariats als den Kampf gegen die Korruption, ein bisschen Nationalstolz und die spirituelle Botschaft des orthodoxen Russland im Gegenzug zur Neuen Weltordnung. Jesus, sagt er, sei der erste Kommunist gewesen. Er verspricht im Fall seiner Wahl, dass die Reichen weniger reich würden und die Armen weniger arm, und zumindest im zweiten Punkt dieses Programms dürften wohl alle übereinkommen: Wer wollte schon öffentlich befürworten, dass die Alten des Hungers und der Kälte sterben?
    Bei der Vorstellung, man wolle sie weniger reich machen, werden die Oligarchen jedoch unruhig, und dies umso mehr, als sie gerade einen wunderbaren Dreh erfunden und an Jelzin verkauft haben, um sich noch mehr zu bereichern: »Aktien für Kredite«. Die Idee ist einfach: Ihre Banken leihen dem Staat, dessen Kassen leer sind, Geld; diese Darlehen werden auf die noch nicht privatisierten Prunkstücke der russischen Wirtschaft verpfändet – Gas und Öl, die wirklichen Reichtümer des Landes –, und wenn der Staat mit Ablauf eines Jahres

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