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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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nicht mehr existiert, nichts mehr sind. Sie brachten einmal die Zivilisation, und jetzt ist der Islam oder, was nicht besser ist, die demokratische Ideologie über sie hereingebrochen. Sie haben einmal geherrscht, und jetzt werden sie in Ländern, die ihnen alles verdanken und die sie mit ihrem Blut begossen haben, schikaniert, verstoßen oder bestenfalls toleriert: genau wie die Serben in Ex-Jugoslawien. Der Verräter Jelzin wollte den Serben nicht zu Hilfe eilen, und er wird auch nicht den 900000 Russen in Lettland, den 11 Millionen Russen in der Ukraine oder den 5 Millionen Russen in Kasachstan zu Hilfe eilen. Eine neue Schlacht ist zu schlagen: Auf diesen Territorien sind Unruheherde anzufachen und die Schaffung von separatistischen Republiken zu befördern. Es gibt zwei Ziele: die baltischen Staaten und Zentralasien. In den baltischen Staaten ist die Partei schon gut verankert, in Riga gibt es eine gute Hundertschaft von Nazboly . Für Zentralasien kann Eduard verkünden, er werde bald selbst eine Erkundungstour dorthin unternehmen. Er werde demnächst abreisen und zähle zu seiner Begleitung auf ein Dutzend Mutige. Alle Interessenten seien willkommen.
    Hundert Hände heben sich. Der Applaus donnert, es herrscht allgemeine Euphorie. Für die Kühnsten unter den Nazboly öffnet sich eine weitere Grenze. Es ist ein historischer Moment: ganz wie der, denkt Eduard, als Gabriele D’Annunzio ein Bataillon von Helden auftat, um mit ihm Fiume zurückzuerobern. Aus den Kulissen schickt Lisa Küsse zu ihm hinüber.
    Die Tour der Nationalbolschewisten nach Kasachstan, Turkmenistan, Tadschikistan und Usbekistan dauerte zwei Monate. Acht Mitstreiter begleiteten den Chef, acht kahlrasierte Muskelprotze, die auf einer Reihe von Fotos, die in Anatomie des Helden abgebildet sind, vor Panzern neben Repräsentanten der dort stationierten russischen Truppen zu sehen sind. Diese Fotos brachten einen meiner Freunde, dem ich sie an einem versoffenen Abend zeigte, sehr zum Lachen. »Hör mir auf«, sagte er, »das ist doch nur eine Schwulengang. Die sind dort hingefahren, um in aller Ruhe zu poppen.« Ich habe auch gelacht, an so etwas hatte ich nicht gedacht. Ehrlich gesagt glaube ich auch nicht daran, aber wer weiß?
    Sicher jedenfalls ist, dass Lisa und die Frauen der anderen – sofern sie welche hatten – brav zu Hause blieben. Eduard schien allerdings weniger die Abwesenheit seiner Gefährtin bedauert zu haben als die des französischen Söldners Bob Denard, den er ein wenig kennt, seit er ihm in Paris begegnet ist, und den er in das Abenteuer hineinzuziehen suchte. Dieser große Profi für Putsche und andere faule Coups in Afrika wäre eine wertvolle Hilfe gewesen, um die Möglichkeiten einer Destabilisierung auszuloten. Leider hatte Bob Denard Anderes zu tun. Sicher ist auch, dass Eduard, statt irgendetwas zu destabilisieren, Länder entdeckte, die ganz seinem Geschmack entsprachen. Zentralasien versetzte ihn in Begeisterung, und zwar ehrlich gesagt nicht so sehr die Russen in Zentralasien, die eigentlichen Objekte seiner Fürsorge, sondern die Usbeken, Kasachen, Tadschiken und Turkmenen; über sie listet er Klischees auf, die, glaube ich, trotz allem ihre Gültigkeit besitzen: stolze, empfindliche, arme, gastfreundliche Völker mit Gewalt- und Blutrachetraditionen, für die er vollste Sympathie empfindet. Unter dem Stern von Gabriele D’Annunzio abgereist, kommt er unter dem von Lawrence von Arabien zurück und sieht sich durchaus als Befreier, aber nicht von spießigen Russen, sondern von usbekischen und kasachischen Bergbewohnern, die letztlich ihre eigenen Gründe haben, um mit den lokalen Diktatoren zu hadern. Er, der unter dem Einfluss seiner serbischen Freunde dem Islam gegenüber so feindlich eingestellt war, schwört bei seiner Rückkehr auf die Moslems – wobei er diese plötzliche Schwärmerei bis auf die Tschetschenen ausweitet – und rühmt ihre Einfachheit, ihre Guerillatechnik und die Eleganz in ihrer Brutalität. Eines muss man diesem Faschisten lassen: Er mag und mochte immer nur Minderheiten. Die Mageren gegen die Fetten, die Armen gegen die Reichen, die bekennenden Dreckskerle, die rar sind, gegen die Tugendhaften, die es wie Sand am Meer gibt; und so unstet seine Bahn auch sein mag, diese Beständigkeit gibt es: sich immer, absolut immer, auf die Seite der Ersteren gestellt zu haben.
    5
    Da sich die zweite Amtszeit von Jelzin ihrem Ende nähert, suchen die Oligarchen einen gleichermaßen

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