Limonow (German Edition)
findet, rast. Die verabreichte Dresche hat ihn keineswegs ruhiger gemacht. Er hat Natascha durch Lisa ersetzt, eine umwerfende, großgewachsene, schlanke Punkerin von zweiundzwanzig Jahren, die Anne Parillaud in Nikita ähnelt und verrückt nach ihm ist. Aber weder diese neue Liebe noch die Leitung einer Underground -Zeitung noch die Literatur genügen der Vorstellung, die er sich von seinem Schicksal macht. »Wenn ein Künstler nicht rechtzeitig begreift, dass er sich einer Sache widmen muss, die über ihn hinausreicht, wie einer Partei oder einer Religion«, schreibt er, »dann erwartet ihn allenfalls ein erbärmliches Leben aus Säufereien, Fernsehshows, Zwergengeschwätz und kleinen Rivalitäten und am Ende ein Herzinfarkt oder Prostatakrebs.« Die Religion hebt er sich für später auf. Eine Partei hat er bereits; er weiß zwar nicht so genau, was er damit anfangen soll, aber eine Streitkraft, das ist immerhin schon etwas, und um diese Streitkraft zu ermessen, beschließt er, einen Kongress zu organisieren.
Sie sind gekommen, sie sind alle da. Nein, nicht alle, es gibt 7000 von ihnen in Russland, doch mehrere Hundert sind aus allen Himmelsrichtungen angereist wie für ein Rockfestival. Die Ungeduldigsten der Abgesandten sind ein paar Tage früher gekommen und haben Quartier im Bunker bezogen, für die anderen hat man Schlafsäle in einem Arbeiterwohnheim reserviert. Das war nicht einfach, auch einen Saal zu finden war nicht einfach. Jedes Mal, wenn ein Vermieter seine Zusage gegeben hatte, tauchte er am nächsten Tag noch einmal auf, um mitzuteilen, dass er nach gründlicher Überlegung doch nicht einverstanden sei – die Polizei musste ihm in der Zwischenzeit erklärt haben, dass dieses Geschäft keine gute Idee sei. Bis zum Schluss befürchtete man das Schlimmste: Bombenalarm, Schikanen oder ganz einfach das Verbot der Veranstaltung. Aber das Schlimmste trifft nicht ein, und der Kongress wird eröffnet: Unter einem riesigen Poster von Fantômas steht Eduard auf der Tribüne, und er strahlt. Seit drei Jahren haben er und eine Handvoll andere sich abgerackert, Exemplare ihrer Zeitung in Bahnhöfe zu tragen, damit sie in entlegene Käffer reisen, und jetzt sieht man das Ergebnis: wirkliche Leute, Brüder.
Es sind nicht die Siegfrieds, die Dugin sich erträumt hatte, sondern finstere, picklige Provinz-Jugendliche mit bleicher, von roten Flecken bedeckter Haut, die sich auf der Straße ihren Weg in Reihen bahnen und, wenn sie ausnahmsweise in ein Café gehen, verschämt ihre Groschen zählen, auf ihre klobigen Treter schauen und eine Bestellung für vier aufgeben: Die Nazboly sind eine finanzschwache Klientel, die befürchtet, lächerlich zu erscheinen, und die aus Angst, man könne sich über sie lustig machen, die Zähne zeigt. Ohne Eduard wären sie Alkoholiker oder Delinquenten. Er hat ihrem Leben einen Sinn gegeben, einen Stil, ein Ideal, und dafür sind sie bereit, für ihn zu sterben. Er ist stolz auf sie, stolz, dass jetzt auch Mädchen unter ihnen sind, die, wie Sachar Prilepin beobachtete, entweder sehr hübsch oder sehr hässlich sind, es gibt nichts dazwischen, aber auch die sehr Hässlichen sind herzlich willkommen, und die Hübscheste von allen, das ist die seine, diese lange Lisa mit dem rasierten Schädel, die ihn liebevoll anblickt, während er, umflutet von ihrer aller Bewunderung, redet und redet.
Er erklärt ihnen, Russland werde von alten, fetten, korrupten Individuen regiert, doch Russlands Zukunft seien sie. Das alte Lied. Aber er sagt ihnen noch etwas, und er hat lange darüber nachgedacht: Die politische Situation ist noch nicht reif. Ein großer Mensch – das versuchte er erfolglos diesem Idioten von General Ruzkoi während der Belagerung des Weißen Hauses zu erklären – versteht zu erkennen, wann die Zeit reif ist, und jetzt ist sie es noch nicht. Die blödsinnigen Koalitionen mit antisemitischen Orthodoxen oder Großneffen von Stalin sollte man besser aufgeben. Die Nazboly werden, zumindest jetzt, nicht die Macht in Russland übernehmen. Eines Tages ja, aber nicht jetzt. Doch in der Zwischenzeit werden sie sich nicht damit zufrieden geben, die Limonka zu lesen und in ihrer Ecke auf der Gitarre zu klamp fen. Es gibt etwas zu tun. Nicht in Russland selbst, aber an seinen Rändern: in den Territorien, die der Verräter Gorbatschow aufgegeben hat. Mit ihnen hat er 25 Millionen Russen preisgegeben, die einmal die Führungskräfte der Sowjetunion waren und die, seit diese Union
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