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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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der Welt; und ich glaube, Eduard hat das instinktiv immer schon gewusst und sich stets selbst dazu gratuliert, alles zu sein, was man ihm nachsagen mochte, hart, egozentrisch, mitleidslos, aber wahnsinnig, nein, das mit Sicherheit nicht. Im Gegenteil, sofern es so etwas gibt.
    Anna dagegen ist tatsächlich verrückt, und ihr Wahnsinn wird eine tragische Wendung nehmen, aber im Moment kann man ihn noch mit einer Art von Exzentrik und sehr farbenfrohen Phantasie verwechseln, genau wie ihre notorische sexuelle Gier. Die ganze Boheme von Charkow sei schon an der Reihe gewesen, erzählt man sich im 41 , im Besonderen sei sie eine Spezialistin für die Entjungferung jugendlicher Kunstschaffender. Da sie gleich nebenan wohnt, enden die Abende in der Buchhandlung oft bei ihr. Eduard, der anfangs nicht ausdrücklich dazu eingeladen wird, stellt sich diese als orgiastische Ausschweifungen vor. In Wirklichkeit bestehen die after bei Anna genau wie die Abende in der Buchhandlung aus schwärmerischen Konversationen über Kunst und Literatur, immer schwerfälliger werdenden Deklamationen von Gedichten, Klatsch und Tratsch und für ihn unverständlichen private jokes ; und so lacht er in seiner Ecke des plüschigen Kanapees, wenn die anderen lachen, und besäuft sich, um seine Schüchternheit zu überwinden. Mit Ausnahme der Hausherrin und ihrer Mutter, die ab und zu an die Tür pocht und darum bittet, man möge weniger Lärm machen, sind bei diesen Abenden nur Männer anwesend; und diese Männer fassen Anna vertraut um den Hals und küssen sie auf den Mund, sodass Eduard den unangenehmen Eindruck gewinnt, er sei der einzige in der Gruppe, der sie noch nicht flachgelegt hat. Hat er wirklich Lust dazu, oder will er vor allem dieser Gruppe zugehören, die er hellsichtig als seine einzige Chance erkennt, um Saltow zu entfliehen? Sie hat einen schönen Busen, das schon, aber er mag keine Dicken. Wenn er beim Wichsen an sie denkt, überzeugt es kaum, und er befürchtet, wenn er sich mit ihr im Bett wiederfände, keinen hochzukriegen oder zu schnell zu kommen. Und dann eines Nachts ist es sehr spät geworden, die Gäste gehen einer nach dem anderen nach Hause, nur er nicht. Wie Julien sich vornahm, die Hand von Madame de Rénal zu ergreifen, hat er sich vorgenommen, um jeden Preis zu bleiben, und sei es, um sich zu beweisen, dass er kein Schlappschwanz ist. Die letzten, die im Gehen begriffen sind, zwinkern ihm spöttisch zu, während sie sich ihre Mäntel überwerfen. Eduard markiert so gut er kann den Gleichgültigen, Gelassenen, der mit all dem umzugehen weiß. Als sie allein sind, macht Anna keine Anstalten. Wie vorauszusehen war, kommt er beim ersten Mal sehr schnell, aber er beginnt gleich noch einmal von vorn – das ist das Privileg der Jugend. Sie ihrerseits sieht zufrieden aus, und das ist das Wichtigste.
    Denn der Plan unseres Eduard, dieses sowjetischen Barry Lyndon, bestand nicht nur darin, mit Anna zu schlafen, sondern gleich bei ihr, in diesem Allerheiligsten der Boheme, einzuziehen und so von der Rolle des sich selbst einladenden kleinen Prolls zu der des amtierenden Geliebten und Hausherrn aufzusteigen. Da die Wohnung, die sie teilen, zwei Zimmer hat – was für ein Luxus! –, gibt Annas Mutter, Zilja Jakowlewna, zunächst vor, sein nächtliches Bleiben nicht zu bemerken, doch dann akzeptiert sie ihn schnell, denn er versteht es, mit alten Damen umzugehen, und außerdem ist sie ihm dankbar, dieser Parade von Liebhabern ein Ende zu setzen, die dem ganzen Wohnhaus Anlass zu Klatsch und Tratsch bot.
    Der Gedanke an diese Parade würde andere in qualvolle Anfälle von nachträglicher Eifersucht stürzen, für Eduard ist er stimulierend. Anna, man muss es klar sagen, erregt ihn nur mäßig, er muss sich vorher betrinken, um Ansturm auf ihren riesigen Körper voller Speckfalten zu nehmen, dafür aber erregt es ihn, an all die Männer zu denken, die ihm dabei vorausgingen. Viele davon gehören zu ihrem Zirkel. Beneiden oder belächeln sie ihn? – das eine ersehnt er, das andere befürchtet er am meisten auf der Welt. Zweifellos von beidem etwas, doch auf jeden Fall hätte der Eduard von vor wenigen Monaten, der Gießer bei »Hammer und Sichel«, jenen Eduard leidenschaftlich beneidet, der nicht mehr in Saltow lebt, sondern im einst unerreichbaren Stadtzentrum, und dessen Freunde nicht mehr Arbeiter und Halbstarke sind, sondern Dichter und Künstler, und der diesen die Tür mit der nonchalanten Sicherheit des Mannes

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