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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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manche Leute in einem Museum vorm Betrachten eines Bildes zuerst den Namen des Malers auf dem Schildchen nachlesen, um zu wissen, ob es einen Anlass zur Begeisterung gibt, so bin ich im Hinblick auf Lyrik keines persönlichen Urteils fähig, und das for-sche und gebieterische Verdikt des jungen Eduard imponiert mir deshalb umso mehr. Er begnügt sich nicht mit einem Urteil wie »Ich mag« oder »Ich mag nicht«, sondern unterscheidet auf den ersten Blick das Original vom Plagiat, wie er auch nicht hereinfällt auf, ich zitiere: »diejenigen, welche die polnischen Modernisten imitieren, die aber ihrerseits gar keine eigene Originalität besitzen, sondern selbst andere kopieren«. Ich habe bereits den überraschenden Sachverstand der Halbstarken von Saltow erwähnt, die imstande waren, schon in den ersten Versen Eduards die Einflüsse von Jessenin oder Blok auszumachen. Im 41 entdeckt Eduard nun, dass Jessenin und Blok zwar gut sind, aber nur etwa so gut wie, sagen wir, Apollinaire oder, wenn man gemein sein will, Prévert: Selbst Leute, die nichts davon verstehen, verstehen es, und diejenigen, die wirklich etwas davon verstehen, ziehen zum Beispiel Mandelstam vor oder besser noch Welimir Chlebnikow, den großen Avantgardisten der zwanziger Jahre.
    Chlebnikow ist auch der Lieblingsdichter von Motritsch, der selbst als Genie des 41 gehandelt wird. Mit seinen dreißig Jahren hat Motritsch noch nichts veröffentlicht, und er wird auch nie etwas veröffentlichen; doch der Vorteil der Zensur ist, dass man ein Autor sein kann, der nichts veröffentlicht, ohne dass andere einem Talentlosigkeit unterstellen – ganz im Gegenteil. So gibt es im Umkreis ihrer Gruppe einen Jungen, der eine Sammlung von Gedichten über die Besatzung des Panzerkreuzers Dserschinski geschrieben und dafür den Literaturpreis des ukrainischen Komsomol erhalten hat. Ein hübscher Anfang mit einer hohen Auflage, der eine schöne Karriere als literarischer Apparatschik in Aussicht stellt, auch wenn ihn nicht nur alle Welt, sondern auch er selbst sich für schlechter als Motritsch hält und er sich, wenn er sich ins 41 wagt, fleißig bemüht, einen Erfolg zu vertuschen, der ihn eindeutig als Scharlatan und Verräter einordnet. Motritsch wird dasselbe Schicksal erleiden wie alle Helden Eduards, nämlich das, bald schon von seinem Sockel geholt zu werden, aber im Augenblick ist er noch sein Idol, ein echter, lebendiger Dichter – und, wie er in einer ziemlich raffinierten Unterscheidung später urteilen wird, ein schlechter, aber authentischer Dichter. Eduard liest seine Verse, hört auf seine Orakelsprüche und entwickelt unter seinem Einfluss eine Leidenschaft für Chlebnikow, dessen Gesamtwerk in drei Bänden er von Hand kopiert; und er beginnt in den leeren Stunden, die ihm seine Arbeit als Straßenbuchhändler gewährt, wieder zu schreiben, ohne jemandem etwas davon zu sagen.
    Die leitende Verkäuferin des 41 , Anna Moissejewna Rubinstein, ist eine majestätische Frau mit bereits ergrautem Haar, einem schönen, tragischen Gesicht und einem riesigen Hintern. Als sie jünger war, hatte sie Ähnlichkeit mit Elizabeth Taylor; doch mit ihren achtundzwanzig Jahren ist sie bereits eine Matrone, der die Jugendlichen in der Straßenbahn den Platz räumen. Anfällig für manisch-depressive Verstimmungen, wofür sie eine Invalidenrente bezieht, erklärt sie sich stolz für eine »Schizo« und nennt alle, die sie wertschätzt, Verrückte. Und diese nehmen es als Kompliment. Denn in der Welt der Charkower »Dekadenz« verdankt sich Genie nicht nur der Tatsache, verkannt zu sein, sondern auch der, ein Säufer, verhaltensauffällig und sozial unangepasst zu sein. Da die Psychiatrie unter anderem ein Repressionsmittel ist, kommt ein Aufenthalt dort einem Diplom zum Dissidenten gleich – eine Bezeichnung, die in der Epoche, von der ich spreche, ihre ersten Schritte macht. Eduard kannte sie noch nicht, als man ihn bei den Rasend-Bekloppten einlochte, aber eines seiner Talente ist, schnell dazuzulernen, und von nun an verpasst er keine Gelegenheit, um von seiner Zwangsjacke zu berichten und von seinem Bettgenossen, der den ganzen Tag lang sabberte und masturbierte. Jetzt, da ich davon schreibe, kommt mir der Gedanke, selbst bis zu einem recht vorgerückten Alter dem Kult des Wahnsinns gehuldigt zu haben. Gott sei Dank bin ich darüber hinweg. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass diese Art von Romantik Dummheit ist und Wahnsinn das Traurigste und Bedrückendste auf

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