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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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furchtbar an. So furchtbar, dass er Kadik bittet, ihm zur Flucht zu verhelfen, und Kadik, der brave Kadik, lehnt, ohne seinem Drachen von Lydia etwas zu sagen, eine Leiter ans Fenster und schafft es, eine Gitterstange herauszulösen. Und schon ist Eduard draußen; er ist entschlossen, sehr weit weg zu fahren, doch er begeht den Fehler, noch einmal seine Eltern aufzusuchen, und dort schnappt ihn am nächsten Morgen die Polizei. Seine Mutter hat sie informiert, und als er Raja rasend vor Wut fragt warum, erklärt ihm diese, es sei zu seinem Besten: Wenn er in die Klapse zurückkehre, werde man ihn sehr bald und vor allem legal gehen lassen, entflohen und gesucht dagegen werde er nie in der Legalität leben können. Schöne Worte, und zweifellos glaubt sie daran, aber statt ihn sehr bald gehen zu lassen, verlegt man ihn von den Träge-Bekloppten zu den Rasend-Bekloppten, wo man ihn mit feuchten Tüchern ans Gitter seines Betts bindet, genauer gesagt ans Gitter des Betts, das er sich mit einem Schwachsinnigen teilt, der von morgens bis abends nichts anderes tut als sich einen runterzuholen, denn bei den Rasend-Bekloppten hat man nicht einmal ein Bett für sich allein. Einmal am Tag setzt man ihm eine Insulin-Spritze, obwohl er keinen Diabetes hat, um ihn das Leben zu lehren und ihn ruhigzustellen. Es stellt ihn auch tatsächlich ruhig. Er wird schwerfällig, aufgedunsen und schwam mig, er spürt, dass sein unterzuckertes Gehirn auf dem letzten Loch pfeift und dass er noch nicht einmal mehr die Kraft hat aufzubegehren. Er hat langsam Lust, ins Koma zu fallen und nicht mehr aufzuwachen, damit die Sache ein Ende hat.
    Nach immerhin zwei Monaten dieser Diät hat er das Glück, an einen alten Psychiater mit Haaren in den Ohren zu geraten, der nach einem kurzen Gespräch mit dem in einen Zombie verwandelten Jungen weise schlussfolgert: »Du bist nicht verrückt. Du willst nur auf dich aufmerksam machen. Mein Rat: Es gibt bessere Wege dafür, als sich die Adern zu öffnen. Geh nicht in die Fabrik zurück. Geh mit meiner Empfehlung zu diesen Leuten hier.«
    7
    Die Adresse, die ihm der alte Psychiater gegeben hat, gehört einer Buchhandlung im Zentrum von Charkow, die einen Straßenverkäufer sucht. Die Aufgabe besteht darin, in Kinofoyers oder vor dem Zooeingang auf einem Klapptisch antiquarische Bücher auszulegen und auf Käufer zu warten. Doch es gibt selten Kundschaft, die Bücher sind fast geschenkt, und der Verkäufer erhält für jedes verkaufte Exemplar eine lächerlich geringe Provision. Eduard würde es in diesem Job, der eher eine Freizeitbeschäftigung für Rentner abgibt, nicht lange aushalten, wenn sich der Buchladen 41 , wo er morgens seine Kartons holt und abends seinen Erlös abliefert, nicht als Treffpunkt von allem entpuppen würde, was Charkow an sogenannten »dekadenten« Künstlern und Dichtern zählt: jene Welt, um die der arme Kadik herumschlich, bevor der Hammer, die Sichel und Lydia Ordnung schufen. Eduard beginnt trotz seiner Schüchternheit, nach der offiziellen Schließzeit immer länger dort zu verweilen. Oft verpasst er die letzte Straßenbahn und muss zwei Stunden durch die Nacht und den Schnee laufen, um seine weit entfernte Arbeitervorstadt zu erreichen. Denn erst abends, wenn der eiserne Vorhang heruntergelassen ist, fängt man an, nicht nur zu trinken und zu palavern, sondern vor allem jene heimlichen Kopien von verbotenen Werken auszutauschen, die Samisdat genannt werden – was wörtlich heißt: selbst verlegt. Man bekam eine Kopie anvertraut und fertigte selbst einige weitere an, und auf diese Weise zirkulierte nahezu alles, was an sowjetischer Literatur lebendig war: Bulgakow, Mandelstam, Achmatowa, Zwetajewa, Pilnjak, Platonow … Einer dieser denkwürdigen Abende im 41 ist auch der, als aus Leningrad das ob seiner Blässe fast unleserliche Exemplar eines Gedichts des jungen Joseph Brodsky ankommt (der fünfte oder sechste Durchschlag, schätzen die Kenner mit zu Schnuten gespitzten Mündern), es trägt den Titel »Prozession« und wird von Eduard zwanzig Jahre später folgendermaßen charakterisiert: »Eine Imitation von Marina Zwetajewa von zweifelhaftem künstlerischen Wert, die aber exakt dem soziokulturellen Entwicklungsstand Charkows und der Stammgäste dieser Buchhandlung entsprach.«
    Ich weiß nicht genau, was ich von dieser Unverschämtheit halten soll, und zwar aus einem Grund, den zuzugeben es zweifellos an der Zeit ist: Ich habe von Lyrik keinen blassen Schimmer. So wie

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