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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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Eigentlich seit das Landesgericht von Charkow Kostja und zwei andere ihrer Freunde zum Tode verurteilt hat. Einer von ihnen wurde exekutiert, Kostja und der andere kamen mit zwölf Jahren Lagerhaft davon. Dazu beschloss Kadik, der ebenfalls Großes vorhatte und Jazzmusiker werden wollte, als Arbeiter der Fabrik »Hammer und Sichel« beizutreten, und es lohnte sich gar nicht, sich darüber lustig zu machen, denn einige Monate später folgte Eduard mit eingezogenem Schwanz seinem Beispiel. Eduard ist jetzt Gießer. Es ist eine dreckige, stumpfsinnige Arbeit, doch er ist einer von der Sorte, der alles, was er macht, gut macht. Wenn das Schicksal ihm gestattet hätte, Verbrecher zu werden, wäre er ein guter Verbrecher geworden. Als Prolo ist er ein guter Prolo, mit einer Schiebermütze auf dem Kopf, einem Blechnapf fürs Mittagessen, regelmäßiger Erwähnung auf der Ehrentafel und seinen 800 Gramm Wodka am Samstagabend, die er mit den anderen Jungs seiner Schicht hinunterstürzt. Er schreibt keine Gedichte mehr. Er hat Freundinnen, die Proletinnen sind wie er. Die letzte Katastrophe, die über ihn hereinstürzen könnte, wäre, eine davon zu schwängern und sie heiraten zu müssen, und wenn man den Tatsachen ins Gesicht sieht, ist es mehr als wahrscheinlich, dass diese Katastrophe über ihn hereinstürzen wird. Wie über Kadik, seinen Kundschafter auf dem Weg der Niederlage, der gerade mit einer Arbeiterin namens Lydia zusammengezogen ist, die älter ist als er und nicht einmal hübsch und deren Bauch sich schon wölbt – und mit pathetischer Sturheit sagt sich der Unglückliche, um sich selbst davon zu überzeugen, immer wieder, mit ihr, das sei es, er habe seine wahre Liebe gefunden und bedauere es in keiner Weise, wirklich in keinster, ihr seine unreifen Träumereien geopfert zu haben.
    Armer Kadik. Armer Eduard. Noch nicht mal zwanzig und schon weichgekocht. Ein verkrachter Verbrecher und ein verhinderter Dichter, zu einem Scheißleben in einem Loch am Arsch der Welt verdammt. Man hat ihm oft gesagt, er habe Glück gehabt, nicht mit Kostja und den beiden anderen an dem Abend zusammen gewesen zu sein, als diese betrunken einen Mann töteten. Aber ist das wirklich so sicher? Wäre es nicht besser, lebendig zu sterben als tot zu leben? Als er sich dreißig Jahre später an diesen Abend erinnert, ist er der Meinung, er habe den mit einem Horngriff besetzten Rasierer seines Vaters von der Ablage über dem Waschbecken geholt, um sich lebendig zu fühlen, und nicht, um zu sterben – Eduard rasiert sich kaum: Er hat die fast bartlose Haut eines Asiaten, eine Haut, die es wert gewesen wäre, von schönen, eleganten Frauen gestreichelt zu werden, aber damit wird es wohl nichts mehr.
    Er setzt die scharfe Klinge des Rasierers auf die Innenseite seines Handgelenks. Im Halbdunkel schaut er das so vertraute, hässliche Zimmer an, in dem er mehr als die Hälfte seines Lebens verbracht hat. Er war noch ein Kind, als er hierher kam, ein kleiner, zärtlicher und ernster Junge. Wie lang ist das her … Drei Meter neben ihm schnarcht seine Mutter unter den Decken, den Kopf zur Wand gedreht. Sie wird vor Kummer sterben, aber er hat bereits begonnen, sie vor Kummer sterben zu lassen, als er seine Ausbildung abbrach und Arbeiter wurde, also sollte er sein Werk wohl wenigstens vollenden. Der erste Schnitt ist einfach, die Haut spaltet sich fast schmerzlos. Erst wenn man auf die Adern trifft, wird es hart. Man muss die Augen abwenden und die Zähne zusammenbeißen, die Klinge mit einem sehr schnellen, scharfen Schnitt durchziehen und sie dabei fest hineindrücken, damit das Blut zu fließen beginnt. Es fehlt ihm an Kraft, um auch die zweite Seite anzugehen, aber eine müsste schon genügen. Er lässt seine Hand vor sich auf dem Tisch liegen, schaut dem dunklen Fleck zu, der auf der Wachstuchdecke immer größer wird und Rot und Schwarz langsam durchtränkt. Er rührt sich nicht. Er spürt seinen Körper kalt werden. Auf das Poltern seines umfallenden Stuhls hin schreckt seine Mutter hoch. Er selbst wacht am nächsten Morgen im Irrenhaus auf.
    Die Psychiatrie ist schlimmer als das Gefängnis; im Gefängnis kennt man zumindest das Strafmaß und weiß, wann man wieder herauskommt, hier dagegen ist man der Willkür von Ärzten ausgeliefert, die hinter ihren Brillengläsern hervorschauen und sagen: »Wir werden sehen« oder viel öfter noch gar nichts sagen. Die Tage vergehen, und man schläft, raucht, mampft Kascha und ödet sich

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