Limonow (German Edition)
von Werkeleien vererbt, und nach achtundvierzig Stunden Mühe, Scheitern und Zeichnungen, die so kompliziert sind wie die Pläne für eine Eisenbahnbrücke, stellt das Ergebnis den Kunden zufrieden, er zahlt Eduard zwanzig Rubel für die Maßschneiderarbeit und reicht die Adresse in sei nem Umkreis weiter, sodass bald von allen Seiten Aufträge herein strömen.
So hat Eduard durch einen Zufall die Frage nach seinem Überleben für die nächsten zehn Jahre beantwortet, und das auf eine befriedigende Weise, wie er findet, denn sie erspart ihm die Konfrontation mit jedweder Form von Autorität wie Fabrikleitung, Werkmeister, Vorarbeiter und allen Arten von Chefs. Als selbstständiger Schneider ist er auf sich allein gestellt und nur auf die Geschicklichkeit seiner Hände angewiesen; er arbeitet, wann es ihm passt, doch er kann auch, wenn er Aufträge hat, zwei oder drei Hosen an einem Tag nähen und sich dann der Lyrik widmen. Wenn Anna aus der Buchhandlung kommt, schiebt er seine Stoffe und Hefte ans Ende des Tischs, ihre Mutter trägt schöne rote ukrainische Tomaten, Auberginenkaviar oder gefüllten Karp fen herein – und er führt ein richtiges Familienleben.
»Das Einzige, was deinem Mann noch fehlt, ist, Jude zu werden«, scherzt Zilja Jakowlewna. »Er sollte sich beschneiden lassen.«
»Er hat doch schon einen Judenberuf«, antwortet Anna Moissejewna, »wir dürfen auch nicht zu viel von ihm verlangen.«
Auch das gefällt ihm: dass Anna, wie sie selbst sagt, »eine verlorene Tochter vom Stamme Israel« ist. Einer der ersten Einwände, der gegen das Projekt dieses Buches erhoben wurde, kam von meinem Freund Pierre Wolkenstein, der sich fast mit mir entzweite, weil ich vorhatte, über einen Typen zu schreiben, der seiner Meinung nach als Russe und Anführer einer sagen wir zweifelhaften politischen Formation antisemitisch sein musste . Doch dem ist nicht so. Man kann Eduard eine Menge Verirrungen vorwerfen, doch diese nicht. Was ihn davor bewahrt, ist weder seine moralische Erhabenheit noch sein Geschichtsbewusstsein – denn in der Tat ist ihm wie den meisten Russen von der Höhe ihrer zwanzig Millionen Kriegstoten herab die Shoah piepegal, und er würde mit Jean-Marie Le Pen ganz einiggehen, darin nur ein »Detail« des Zweiten Weltkriegs zu sehen –, sondern eine Art Snobismus. Dass der gewöhnliche Russe und insbesondere der Ukrainer notorisch antisemitisch ist, stellt für ihn den besten Grund dar, es nicht zu sein. Juden zu misstrauen ist etwas für langsame, schwerfällige Trampel mit Scheuklappen, etwas für einen Sawenko, und das von einem Sawenko jeglicher Couleur Entfernteste sind die Juden. Es ist ihm ganz und gar nicht egal, dass Anna Jüdin ist, aber diese Exotik ist für ihn ausschließlich positiv konnotiert, und sie kann sich als Hooligan, Schizo und Abartige bezeichnen, soviel sie will, er sieht sie als orientalische Prinzessin, als eine Prinzessin, durch deren Gnade er, der für ein Leben als Arbeitspferd in Saltow bestimmt war, in einem Haus herumschwebt, das so farbenfroh, poetisch und verrückt ist wie ein Bild von Chagall.
Eduard wäre jedoch nicht Eduard, wenn er als Kammerschneider in seinem Stübchen sitzen bleiben und Hosen und Verse basteln würde. Zudem hat er unter den »Dekadenten« des 41 einen neuen Freund gefunden, einen plejboj (das Wort wird langsam in Russland heimisch) namens Genka. Dieser Genka ist der Sohn eines KGB -Offiziers, der geschickter war als der arme Wenjamin und sich auf die Leitung eines schicken Restaurants verlegt hat, das von der Spitze der Staatssicherheits-Hierarchie frequentiert wird, das heißt, jemand von einiger Wichtigkeit in der Stadt. Mit diesen Beziehungen könnte Genka wie sein Vater in die Partei eintreten und mit dreißig Sekretär des Bezirksausschusses werden und bis ans Ende seiner Tage ein bequemes Leben führen mit Datscha , Dienstwagen und Ferien in angenehmen Seebädern auf der Krim. Eine solche Karriere ist in dieser Zeit sogar umso gesicherter, als jeder die Epoche des Terrors und der Säuberungen längst vergangen weiß. Die Revolution hat aufgehört, ihre Kinder zu fressen, die Macht ist, nach Anna Achmatowas Worten, Vegetarierin geworden. Unter Nikita Chruschtschow präsentiert sich die strahlende Zukunft als vernünftiges, freundliches Ziel, das Sicherheit proklamiert, eine Verbesserung des Lebensstandards und das friedliche Wachstum von fröhlichen sozialistischen Familien, in denen Kinder nicht mehr angehalten werden,
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