Limonow (German Edition)
ihre Eltern zu denunzieren. Sicherlich gab es die schwierige Periode, in der nach Stalins Tod Millionen von Zeks befreit und manche sogar rehabilitiert wurden. Die Bürokraten, Provokateure und Spitzel, die sie in den Gulag geschickt hatten, waren sich einer Sache sicher gewesen: dass diese nie zurückkommen würden. Doch einige kamen zurück, und, um noch einmal Achmatowa zu zitieren, zweierlei Russland standen einander gegenüber: das der Denunzianten und das der Denunzierten. Es hätte ein Blutbad geben können, doch so weit kam es nicht. Denunzianten und Totgeglaubte begegneten sich, und jeder wusste, was er vom anderen zu halten hatte; so wendeten beide den Blick ab und zogen mit einem Unwohlsein und einer vagen Scham ihres Wegs wie Leute, die früher einmal zusammen ein krummes Ding gedreht hatten, über das man besser nicht mehr spricht.
Einige aber sprachen doch davon. Chruschtschow hatte 1956 auf dem XX . Parteitag eine »Geheimrede« verlesen, die nicht lange eine solche blieb; in dieser wurde der »Personenkult« unter Stalin angeprangert und damit implizit anerkannt, dass das Land zwanzig Jahre lang von Mördern regiert worden war. Im Jahr 1962 autorisierte er persönlich die Veröffentlichung eines Buchs aus der Feder eines ehemaligen Zeks namens Solschenizyn: Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch , und diese Veröffentlichung kam einem Elektroschock gleich. Ganz Russland riss sich um die Nummer 11 der Zeitschrift Novy Mir , in der diese nüchterne und minutiöse Erzählung eines gewöhnlichen Tagesablaufs eines gewöhnlichen Gefangenen in einem nicht einmal besonders harten Lager erschien. Die Leute waren erschüttert und wagten kaum zu glauben, was sie lasen; dann begannen sie Dinge zu sagen wie: Es herrscht Tauwetter, das Leben fängt wieder zu blühen an, Lazarus steigt aus seinem Grab. Doch von dem Moment an, da ein Mensch den Mut hat, die Wahrheit zu sagen, kommt niemand mehr an ihr vorbei. Wenige Bücher haben je einen solchen Widerhall in ihrem Land und in der ganzen Welt gehabt. Keines, außer zehn Jahre später Der Archipel Gulag , hat dermaßen und reell den Lauf der Geschichte verändert.
Die Macht verstand, dass die Wahrheit über die Lager und über die Vergangenheit alles auszuradieren drohte, wenn man sie weiter zu Wort kommen ließ: nicht nur Stalin, sondern auch Lenin gleich mit und das ganze System mitsamt der Lügen, auf denen es aufgebaut war. Deshalb markierte Iwan Denissowitsch gleichzeitig den Höhepunkt wie auch das Ende der Entstalinisierung. Sobald Chruschtschow von seinen Ämtern enthoben war, errichtete die Generation der Apparatschik s , die aus den Säuberungsaktionen hervorgegangen war, unter der Ägide des anmutigen Leonid Breschnew eine Art von abgeschwächtem Stalinismus, der auf der Vergrößerung des Parteiapparats beruhte, auf der Beständigkeit ihrer Kader, ihren Beziehungen untereinander, der internen Bestimmung von Nachfolgern, kleinen und großen Pfründen und gemäßigten Repressionen: Man nannte ihn den Kommunismus der Nomenklatura , vom Namen der Elite ausgehend, die davon profitierte, doch zu dieser Elite gehörten im Grunde recht viele, und solange man bereit war, das Spiel mitzuspielen, war es auch nicht weiter schwierig, Zugang zu ihr zu erhalten. An diese bleierne, kampflose und auf eine gewisse Weise komfortable Stabilität denken heutzutage praktisch alle Russen, die in dem Alter sind, sie kennengelernt zu haben, mit einer gewissen Nostalgie zurück, da sie nun gezwungen sind, in den eisigen Gewässern des egoistischen Kalküls zu schwimmen und oft auch darin zu ertrinken. Als Pendant zu unserem Motto »Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen« galt damals die Devise: »Wir tun so, als ob wir arbeiten, und sie tun so, als ob sie uns bezahlen.« Als Lebensweise versetzt das zwar nicht gerade in Begeisterung, aber nun ja, man wurstelt sich so durch. Und wenn man sich nicht wirklich idiotisch aufführt, riskiert man nicht sehr viel. Man pfeift auf alles und baut sich im Küchenstübchen wieder eine Welt auf, von der man überzeugt ist, sofern man nicht Solschenizyn heißt, dass sie jahrhundertelang so fortbestehen wird, denn ihr Sinn und Zweck ist die Trägheit.
In dieser Welt kann ein netter Gammler wie Genka, um auf ihn zurückzukommen, sich erlauben, ein netter Gammler zu sein, und auch sein Tschekisten-Vater kann es ihm gestatten. Natürlich wäre es besser, er würde in die Partei eintreten, so wie es besser wäre, wenn ein junger, bürgerlicher
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