Limonow (German Edition)
Franzose in denselben Jahren, den Zeiten des Wirtschaftswunders, die Hochschule für die höhere Beamtenlaufbahn oder die Technische Universität besuchen würde, aber wenn er es nicht tut, ist es auch nicht weiter schlimm, er wird weder verhungern noch in einem Lager krepieren, man wird ihm ein kleines, geruhsames Bürokraten-Pöstchen finden, dank dessen er nicht als Parasit und asoziales Element eingesperrt wird, und fertig. Und so verbringt Genka ohne die geringste Sorge um seine Zukunft seine Nächte damit, gratis mit seinem Kumpel Eduard in Diskos zu trinken, die von Kollegen seines Vaters geführt werden, und hängt tagsüber, zumindest im Sommer, am Getränkeausschank im Zoo herum, wo seine Runde für jeden offensteht und er seinen Hofstaat zum Lachen bringt, weil er Kunden wegschickt mit der Begründung, hier fände gerade der außerordentliche Kongress der Dompteure bengalischer Tiger statt und er sei dessen Generalsekretär.
Genkas Hofstaat teilt sich in zwei Parteien: die SS ler und die Zionisten. Der urigste der SS ler ist ein braver Junge, dessen Gesellschaftstalent darin besteht, eine Rede von Hitler zu imitieren. Er spricht nicht gut Deutsch, aber sein Publikum noch weniger, und es genügt, dass er aufstößt, mit den Augen rollt und vor allem, dass sein Publikum Wörter wiedererkennt wie »Kommunisten, Kommizaren, Partizanen, Juden«, damit sich alle krümmen vor Lachen, allen voran die Zionisten. Keiner dieser Zionisten ist Jude. Ihre Begeisterung für Israel rührt vom Sechstagekrieg her. Vom Blickwinkel der internationalen Politik aus gesehen ist diese Position eher schwer zu halten, denn obgleich diese Jungs Hallodris sind, so sind sie doch wackere kleine Patrioten, und ihr Heimatland unterstützt und bewaffnet nun mal die Araber und nicht die Israelis. Aber mehr als alles andere beeindruckt sie die Effizienz des Militärs und von diesem Standpunkt aus gesehen, die Kerle von Mosche Dajan – alle Achtung. Echte Soldaten, Hartgesottene wie die Scheißdeutschen und die Japsen, und man mag gegen sie kämpfen oder gekämpft haben, auf jeden Fall respektiert man sie – im Gegensatz zu diesen dicken, rosigen, wehleidigen Vollidioten von Amerikanern, deren kriegerisches Ideal darin besteht, ohne eigenes Risiko von sehr weit oben Bomben abzuschmeißen, die die ganze Welt spalten, wie man es in Hiroshima gesehen hat.
Außer der Wehrmacht und der Zahal haben Genka und seine Freunde, sowohl Zionisten als auch SS ler, noch ein anderes Kultobjekt, einen Film, der in Charkow in diesen Jahren praktisch durchgehend gezeigt wird und den sie mit der ganzen Bande zehn oder zwanzig Mal gesehen haben: Die Abenteurer , mit Alain Delon und Lino Ventura. Ausländische und speziell französische Filme sind eine Neuerung der Chruschtschow-Ära. Jedermann kennt Louis de Funès und Delon – zehn Jahre später kommt Pierre Richard dazu, ein reizender Mann, der noch heute in den hintersten Winkeln der Ex-Sowjetunion als lebender Gott betrachtet wird und keiner georgischen oder kasachischen Filmproduktion seine Dienste als guest star verweigert. Die erste Szene aus den Abenteurern , in der Delon mit dem Flugzeug durch den Arc de Triomphe fliegt, wird Eduard und Genka zu ihrer denkwürdigsten Untat inspirieren, denn randvoll wie so oft versuchen sie, ein klappriges, altes Flugzeug zu klauen und es auf der Startbahn des Militärflughafens zum Abheben zu bringen. Die Sache geht nicht sehr weit, die Wächter, die sie festnehmen, betrachten die Affäre als Witz, und gerührt wie ich es war, als meine Söhne im Alter von sechs und drei Jahren von zu Hause weglaufen wollten und ihr Bündel schnürten, das aus einem um einen Regenschirm gebundenen Taschentuch bestand, bieten sie ihnen einen Schluck zu trinken an, um sie über ihren Misserfolg hinwegzutrösten.
So gehen Eduards Tage dahin. Er näht, schreibt und hängt mit Genka und seiner Bande in einem der schönen Anzüge herum, die er sich selbst geschneidert hat – auf einen in schokofarbenem Braun mit goldenen Nähten ist er besonders stolz. Er macht seine Liegestütze und sein Hanteltraining, er ist muskulös und sommers wie winters braungebrannt, denn die Bräune hält lang auf seiner matten Haut, aber er würde viel dafür geben, einige Zentimeter größer zu sein, keine Brille tragen zu müssen und keine Stupsnase zu haben, um einem Mann wie Delon zu ähneln, den er allein vor seinem Spiegel zu imitieren versucht. Wenn er Anna zu lange vernachlässigt, hält diese
Weitere Kostenlose Bücher