Limonow (German Edition)
unseren Helden aussagt. Widmen wir uns der Vorstellung desjenigen, den Eduard für einen Großteil seines Lebens als seinen Hauptmann Lewitin ansehen wird: Joseph Brodsky, den Anna Achmatowa Anfang der sechziger Jahre zum Wunderkind von Leningrad kürt.
Anna Achmatowa – das ist eine andere Autorität als Motritsch. Alle Kenner betrachten sie seit dem Tod von Mandelstam und Zwetajewa als die große lebende russische Dichterin. Natürlich gibt es auch Pasternak, aber Pasternak ist reich und unverschämt glücklich, er wird mit Ehrungen überhäuft, und seine verspätete Auseinandersetzung mit der Macht bleibt zivilisiert, während Achmatowa, die seit 1946 Publikationsverbot hat, in Zimmern von Gemeinschaftswohnungen von Tee und trockenem Brot lebt – was ihrem Genie noch den Heiligenschein des Widerstands und des Martyriums hinzufügt. Sie erklärt: Ich habe mich immer dort befunden, wo mein Volk das Unglück hatte zu sein.
In seiner Missgunst gefällt es Eduard, Brodsky als ewigen Klassenbesten darzustellen, der immer noch am Rockzipfel seiner Gönnerin hängt, doch in Wirklichkeit steht Brodskys Jugend der seinen an Abenteuern in nichts nach. Selber Sohn eines kleinen Offiziers, verließ Brodsky die Schule schon früh und arbeitete als Fräser, als Sezierer im Leichenschauhaus und als Assistent bei geologischen Expeditionen in Jakutien. Mit einem Ganovenfreund fuhr er nach Samarkand, von wo aus er versuchte, ein Flugzeug zu entführen und Afghanistan zu erreichen. In einem psychiatrischen Krankenhaus interniert, musste er qualvolle Schwefelinjektionen ertragen sowie eine nette Therapie namens Ukrutka , die darin besteht, einen in Laken gewickelten Patienten in eine Badewanne mit Eiswasser zu tauchen und ihn dann darin trocknen zu lassen. Sein Schicksal wendet sich, als er mit dreiundzwanzig unter dem Vorwurf des »Sozialparasitentums« verhaftet wird. Der Prozess »dieses jüdischen Pygmäen in Cordhosen, dieses Verseschmieds, bei dem Kauderwelsch und Pornografie einander den Platz streitig machen« (um die Anklage zu zitieren), hätte unbemerkt vonstatten gehen sollen. Doch eine im Publikum anwesende Journalistin stenographierte jede Minute mit, ihre Notizen machten im Samisdat die Runde, und eine ganze Generation zeigte sich bestürzt über den folgenden Wortwechsel: »Wer hat ihnen die Befugnis gegeben, Dichter zu sein?«, fragt der Richter. Brodsky, nachdenklich: »Wer hat mir die gegeben, ein Mensch zu sein? Gott vielleicht …« Und Achmatowa kommentiert: »Zu was für einer schönen Biografie verhelfen sie da gerade unserem Rotschopf! Man könnte fast meinen, er ziehe die Strippen selbst!«
Zu fünf Jahren Verbannung in den Hohen Norden in der Nähe von Archangelsk verurteilt, findet sich der Rotschopf beim Mistschaufeln in einem kleinen Dorf wieder. Die gefrorene Erde, die durch die anhaltende Kälte abstrakte Landschaft voller Weite und Weiß, die raue Freundschaft der Dorfbewohner: Diese Erfahrungen inspirieren ihn zu Gedichten, die, nachdem sie über viele Umwege Leningrad erreichen, zu Kultobjekten für mehr oder weniger alle Dissidentenkreise der Sowjetunion werden. In der Buchhandlung 41 spricht man nur noch von Brodsky, und für den stets im Konkurrenzkampf befindlichen Eduard ist das nervtötend. Er hatte schon die Welle der Begeisterung nicht besonders geschätzt, die zwei Jahre zuvor beim Erscheinen des Iwan Denissowitsch durchs Land rauschte. Aber gut, Solschenizyn könnte sein Vater sein, während Brodsky nur drei Jahre älter ist als er. Sie müssten in derselben Gewichtsklasse antreten, und von dieser Wirklichkeit ist er weit entfernt.
Sehr bald schon nimmt der junge, aufsässige Limonow die Gewohnheit an, das Dissidententum, das in den sechziger Jahren entsteht, mit einer spöttischen Feindseligkeit zu betrachten und damit zu spielen, Solschenizyn und Breschnew, Brodsky und Kossygin in einen Topf zu werfen: Sie sind die Wichtigen, die Offiziellen, die Vereidigten; jeder von ihnen doziert belehrend an seinem Ende der Fahnenstange, wobei der Erste Sekretär mit seinen gesammelten Werken zum dialektischen Materialismus auf die dicken Wälzer des Bärtigen antwortet, der den Propheten spielt. Keine Jungs von unserer Sorte, uns Gaunern, uns Abgebrühten und kleinen, gewitzten Lumpenproletariern, die genau wissen, dass es eine maßlose Übertreibung ist, die sowjetische Gesellschaft als totalitär zu bezeichnen: Vor allem ist sie chaotisch, und wenn man nur ein bisschen clever ist, kann
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