Limonow (German Edition)
für Gelingen zum Beispiel Liebe sein kann oder ein friedliches, harmonisches Familienleben?« Nein, Eddy ist nicht dazu fähig, und er rühmt sich, dessen nicht fähig zu sein. Das einzige Leben, das seiner würdig ist, ist ein Heldenleben; er will, dass die ganze Welt ihn bewundert, und meint, Argumente wie das friedliche, harmonische Familienleben, die einfachen Freuden oder das Gärtchen, das man geschützt vor den Blicken der anderen bestellt, seien Selbstrechtfertigungen der Gescheiterten, die Suppe, die Lydia ihrem armen Kadik serviert, um ihn in der Hütte zu halten. »Armer Eddy«, seufzt seine Freundin. »Selber arm«, denkt Eddy. Und ja, ich Armer, wenn ich werde wie ihr.
»Nach Moskau! Nach Moskau!« klagten in der Tiefe ihrer Provinz Tschechows drei Schwestern, und ein Jahrhundert später setzt Eduard alle Hebel in Bewegung. Auch Anna lockt das Abenteuer, während sie gleichzeitig befürchtet, ihr verführerischer kleiner Dreckskerl könne dort etwas Besseres finden und ihr entwischen. Eines Abends empfängt man im 41 einen Freund ihres Ex-Mannes, einen Maler, der in Charkow geboren wurde, aber schon seit langem in der Hauptstadt lebt. Dieser Brussilowski ist elegant und kennt berühmte Leute, die er beim Vornamen oder besser noch bei ihrem Kosenamen nennt. Limonows amüsanter Beschreibung zufolge ist er die Art von Typ, der in der Provinz glauben macht, er sei in Moskau sehr berühmt, und in Moskau, er sei in der Provinz sehr berühmt. Eduard fühlt sich eingeschüchtert und unwohl, zumal Anna ihn drängt, dem Gast seine Gedichte vorzulesen. Gönnerhaft geruht er, sie gut zu finden. »Warum wollt ihr überhaupt weg?«, fragt er. »Man lebt doch sehr gut hier in Charkow. Hier kann man fern vom oberflächlichen, falschen Getriebe der Hauptstadt sein Werk reifen lassen. Wer den Versprechungen der Großstadt in die Falle geht, macht sich doch bloß unglücklich. Das echte, ruhige und beschauliche Leben ist es doch, was der Künstler braucht. Schaut, ich beneide euch darum.«
Red’ nur, du Idiot, denkt Eduard für sich. Wenn du Charkow so toll findest, warum bist du dann abgehauen? Doch respektvoll hört er dem Moskauer zu wie ein braves Kind, dessen Rolle er sehr gut zu spielen weiß, und dieser kommt, nachdem er das so authentische Leben in der Provinz gepriesen hat, auf seine Freunde, die SMOG isten, zu sprechen. »Wie, ihr kennt die SMOG isten nicht? Kennt ihr nicht den SMOG ? Den Verein Junger Genies? Habt ihr noch nie von Gubanow gehört? Er ist erst zwanzig, aber jeder, der in Moskau etwas zählt, schwört auf ihn.« Und Brussilowski rezitiert mit halbgeschlossenen Augen Verse des jungen Genies: »Nicht ich ertrinke in den Augen des Kremls, sondern der Kreml ertrinkt in den meinen.«
Arschloch von zwanzigjährigem Gubanow, denkt Eduard rasend vor Wut. Ich bin bald fünfundzwanzig und habe mich schon von Brodsky überholen lassen, niemand auf der Welt weiß von meiner Existenz. So kann es nicht weitergehen!
II
Moskau,
1967–1974
1
Zu dieser Zeit veröffentlichte meine Mutter ihr erstes Buch: Der Marxismus und Asien . Ich war tief beeindruckt, dass meine Mutter ein Buch geschrieben hatte, und versuchte, es zu lesen, aber bereits nach den ersten fünf Wörtern scheiterte ich; sie lauteten: »Jeder weiß, dass der Marxismus …« Dieses incipit wurde für meine Schwestern und mich zum Hauptmotiv unserer Witzeleien: »Aber nein«, sagten wir immer wieder, »jeder weiß nicht, dass der Marxismus. Wir zum Beispiel wissen es nicht. Du hättest auch mal an uns denken können!«
In diesem Buch ging es darum, wie die muslimischen Völker Zentralasiens sich mit der sowjetischen Ideologie und deren Machtapparat arrangierten, ein damals wenig untersuchtes Thema, dem meine Mutter ihre junge Karriere als Historikerin widmete. Als ich sechs Monate alt war, fuhr sie unter dem Deckmantel der Forschung mit einer Gruppe von Wissenschaftlern, die Seuchen bei Schafen untersuchten, auf eine lange Studienreise nach Usbekistan. Aus Buchara, Taschkent und Samarkand brachte sie Fotos mit von Moscheen, Kuppeln und asketischen, stolzen Bettlern mit Turbanen auf dem Kopf und sehr schwarzen Augen. Diese Fotos badeten in einem betörenden kupferfarbenen Licht, das mich als Kind anzog und mir zugleich ein wenig Angst einflößte. Ich hätte meine Mutter gern in dieses mysteriöse Land begleiten wollen, das sie l’ursse nannte, ich mochte nicht, dass sie dorthin fuhr, denn ich ertrug unsere Trennungen schlecht, und selten
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