Limonow (German Edition)
man dieses Chaos durchaus nutzen, um seinen Spaß zu haben.
Den seriösesten Historikern zufolge (Robert Conquest, Alec Nove, meiner Mutter) wurden in den vier Kriegsjahren zwanzig Millionen Russen von den Deutschen getötet und noch einmal zwanzig Millionen von ihrer eigenen Regierung während der fünfundzwanzig Jahre währenden Herrschaft Stalins. Beides sind ungefähre Zahlen; die Gruppen, die sie bezeichnen, dürften sich in jedem Fall in etwa decken; doch für die Geschichte, die ich erzähle, fällt vor allem ins Gewicht, dass Eduards Kindheit und Jugend auf Schritt und Tritt begleitet sind von der ersten, er es aber schafft, die zweite zu verdrängen – denn trotz seines Sinns für Revolte und seiner Verachtung für das mittelmäßige Schicksal seiner Eltern ist Eduard dennoch ihr Sohn geblieben: der Sohn eines kleinen Tschekisten, aufgewachsen in einer Familie, die von den größeren Tragödien des Landes verschont geblieben ist und die, weil sie die Erfahrung absoluter Willkür nicht gemacht hat, glaubt, es habe schon seine Gründe, wenn Leute verhaftet würden; ein kleiner Pionier voller Stolz auf sein Land und dessen Sieg über die Scheißdeutschen, auf sein Reich, das sich über zwei Kontinente und elf Zeitzonen hinweg erstreckt, und auf die Heidenangst, die es diesen Weicheiern von Westlern einjagt. Wenn Eduard auch sonst alles egal ist: das nicht. Wenn man vom Gulag spricht, denkt er ernsthaft, es handle sich um eine Übertreibung und die Intellektuellen, die ihn anprangern, würden viel Lärm um etwas machen, was gewöhnliche Strafgefangene mit mehr Weisheit nähmen. Zudem sind die Plätze auf dem Boot der Dissidenz schon besetzt. Die Stars sind ausgemacht, und würde er sich ihnen zugesellen, wäre er nichts als ein Statist – und das: niemals! Also zieht er es vor, zu grinsen und zu behaupten, Leute wie Brodsky trieben nur Spielchen und dessen Verbannung nach Archangelsk sei ein netter Scherz gewesen: fünf Jahre Sommerfrische auf dem Land, die auf drei verkürzt wurden, und dazu, auch wenn er es noch nicht weiß, den Nobelpreis in Aussicht – raffiniert, Hauptmann Lewitin!
10
Eduard führt bereits seit drei Jahren das Leben eines Charkower Bohemiens, und er hat den Eindruck, damit durch zu sein. Er glaubt, all jene überholt zu haben, die ihm imponierten, und seine Idole der Reihe nach vom Sockel geholt zu haben. Motritsch, der große Dichter ihres Kreises, ist nichts anderes als ein armer Alki, der mit seinen über dreißig Jahren darauf wartet, dass seine Mutter das Haus verlässt, bevor er ein paar Freunde einlädt, die er dann alle aus demselben Glas trinken lässt, weil er Angst hat, das Geschirr könne kaputt gehen. Genka, der plejboj, wird sein ganzes Leben damit verbringen, Die Abenteurer anzuschauen, ohne jemals zu wagen, selbst einer zu werden. Von den Saltowern ganz zu schweigen: Kostja versauert im Gefängnis, der arme Kadik in der Fabrik. Wenn sie sich ab und an treffen, tut es weh, Kadiks Verbitterung mitanzusehen. Er hatte davon geträumt, Künstler zu werden und im Zentrum zu wohnen, jetzt ist es Eduard, der Künstler ist und im Zentrum lebt, und so schimpft Kadik ihn einen Parasiten und sagt, es sei ja sehr schön, sich in braunen Anzügen mit Goldfäden am Getränkestand im Zoo in Szene zu setzen, aber man brauche schließlich auch Leute, die Muttern an Motoren festzögen.
»Leute ja, aber nicht mich«, antwortet Eduard, der die Grausamkeit so weit treibt, einen Autor zu zitieren, den Kadik ihm zur Kenntnis gebracht hat und den sie beide verehrten: »Erinnerst du dich daran, was Knut Hamsun gesagt hat? Man solle alle Arbeiter an die Wand stellen.«
» Dein Hamsun war ein Faschist«, knurrt Kadik.
Eduard zuckt mit den Schultern: »Na und?«
Kleinkriminelle oder Künstler, niemand von denen, die aus dem Gießer Sawenko den Dichter Limonow gemacht haben, hat diesem noch etwas beizubringen, meint er. Limonow betrachtet sie alle als Versager und hat keine Hemmungen mehr, es ihnen auch zu sagen. In einem der Bücher, die er später in Paris über seine Jugend schreibt, berichtet er mit der für ihn typischen Ehrlichkeit von einem Gespräch mit einer Freundin, die ihm freundlich und ein wenig traurig mitteilt, seine Art, die Welt in Versager und Nicht-Versager einzuteilen, sei unreif und vor allem ein Mittel, um ewig unglücklich zu sein. »Eddy, bist du nicht fähig, dir vorzustellen, dass ein Leben auch ohne Erfolg und Berühmtheit erfüllt sein kann? Dass das Kriterium
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