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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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im Moskauer Underground beiwohnte.
    Da gab es die Offiziellen des Literaturbetriebs. Die Seeleningenieure, wie Stalin die Schriftsteller einmal genannt hatte. Die linientreuen Realsozialisten. Die Kohorte der Scholochows, Fadejews und Simonows mit ihren Wohnungen, Datschas , Auslandsreisen, ihren Zugängen zu Shops für Parteibonzen, mit ihren gesammelten Werken in Hardcover-Ausgaben, Millionenauflagen und Auszeichnungen mit dem Leninpreis. Aber selbst diese Privilegierten konnten nicht ein Huhn schlachten und danach seine Eier haben wollen. Was sie an Komfort und Sicherheit gewannen, verloren sie an Selbstachtung. In der heroischen Gründerzeit des Sozialismus mochten sie noch an das geglaubt haben, was sie schrieben, und stolz gewesen sein auf das, was sie waren, doch zu Zeiten Breschnews, während des lauen Sozialismus der Nomenklatura , konnte man sich solchen Illusionen nicht mehr hingeben. Sie wussten sehr wohl, dass sie einem verdorbenen Regime dienten und ihre Seele verkauft hatten – und dass es die anderen auch wussten. Solschenizyn, ihrer aller schlechtes Gewissen, bemerkte dazu: Einer der zerstörerischsten Aspekte des sowjetischen Systems war, dass man nicht ehrlich sein konnte, ohne ein Märtyrer zu werden. Man konnte nicht stolz auf sich sein. Wenn diese Offiziellen nicht vollkommen abgestumpft oder zynisch waren, schämten sie sich für das, was sie taten und waren. Sie schämten sich dafür, in der Prawda lange Denunziationen zu schreiben – 1957 über Pasternak, 1964 über Brodsky, 1966 über Sinjawski und Daniel, 1969 über Solschenizyn –, während sie die Beschimpften in der Tiefe ihres Herzens beneideten. Sie wussten: Diese waren die eigentlichen Helden ihrer Zeit, die großen russischen Schriftsteller, zu denen die Leute kamen wie einst zu Tolstoi, um sie zu fragen: »Was ist gut? Was ist schlecht? Wie sollen wir leben?« Die Willenlosesten unter ihnen seufzten, wenn es nach ihnen ginge, würden sie ja diesen rühmlichen Beispielen folgen, aber sie hätten nun mal Familie und Kinder, die lange Studien absolvierten, oder andere all dieser sehr guten Gründe, die man anführen konnte, um zu kollaborieren, statt in die Dissidenz zu gehen. Viele wurden Alkoholiker, manche, wie Fadejew, brachten sich um. Die cleversten, die auch die jüngsten waren, lernten, auf zwei Geigen zu spielen. Dies wurde möglich; der Machtapparat brauchte diese gemäßigten, exportierbaren Halbdissidenten, auf deren herzlichen Empfang bei uns sich Aragon spezialisierte. Jewgeni Jewtuschenko, dem wir noch wiederbegegnen werden, war ein Musterbeispiel dafür.
    Doch, um der Epoche den richtigen Anstrich zu geben, da war auch das Fußvolk jener, die weder Helden noch Korrupte oder Gerissene waren. Die Leute aus dem Underground , die von zwei Dingen fest überzeugt waren: dass publizierte Bücher, ausgestellte Bilder und aufgeführte Theaterstücke notwendig mittelmäßige Kompromisse waren und ein authentischer Künstler zwangsläufig ein Versager. Es war nicht seine Schuld, sondern die einer Zeit, in der es von Würde zeugte, ein Versager zu sein und als Maler seine Brötchen als Nachtwächter zu verdienen. Als Dichter Schnee vor einem Verlag zu schippen, dem man nicht ums Verrecken seine Gedichte anbieten würde, und dessen Leiter beim Verlassen seines Wolgas selbst irgendwie verlegen wirkte, wenn er einen im Innenhof mit der Schaufel in der Hand sah. Man führte ein Scheißleben, aber hatte nichts und niemanden verraten. Unter Versagern hielt man sich gegenseitig warm, hockte zusammen in Küchen, wo man nächtelang diskutierte und die Samisdat -Literatur kreisen ließ, und trank Samagonka , den Wodka, den man selbst in der Badewanne aus Zucker und Alkohol aus der Apotheke brennt.
    Es gab einen, der davon erzählte. Er hieß Wenitschka Jerofejew. Fünf Jahre älter als Eduard und ein Provinzler wie er, hatte er jene Laufbahn hinter sich, die alle sensiblen Leute damals einschlugen (stürmische Jugend, dann Versinken im Alkohol, Fernbleiben von der Arbeit und Sichdurchwursteln), bevor er 1969 mit einem Prosamanuskript nach Moskau kam, das er »Ein Poem« nannte, so wie auch Gogol Die toten Seelen untertitelt hatte. Zu Recht: Die Reise nach Petuschki ist das große Poem des Sapoj , dieses russischen Langzeitsuffs, dem zu Zeiten Leonid Breschnews das ganze Leben zu gleichen schien. Es erzählt die pechschwarze Odyssee voller Katastrophen des Trinkers Wenitschka zwischen dem Kursker Bahnhof in Moskau und einem entlegenen

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