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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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übertreiben, also glaube ich ihm. Am siebten Montag taucht Rita auf, und er dringt ins Allerheiligste vor.
    Arseni Tarkowski ist sehr viel weniger bekannt als sein Sohn Andrei heute, der damals noch am Anfang seiner weltweiten Karriere als Filmgenie stand. Eduard, von dem bald zu hören sein wird, was er von Nikita Michalkow hält, hat meines Wissens nach nie ein Wort über Tarkowski Junior verloren, und das überrascht mich, denn ich, der ich wie jedermann Tarkowski bewundere, kann mir sehr gut vorstellen, was für einen bissigen Kommentar unser schlimmer Junge über diese heilige Kuh der Kultur hätte abgeben können, über seine für jede Art von Humor undurchlässige Tiefe, seine todernste Spiritualität, seine unvermeidlich von Bachkantaten begleiteten, kontemplativen Einstellungen … Der Vater jedenfalls, ein damals weithin berühmter Dichter und Ex-Liebhaber von Marina Zwetajewa, missfällt Eduard gleich auf den ersten Blick: nicht weil er einen jämmerlichen Eindruck machte, ganz im Gegenteil, sondern weil die einzige in seiner Nähe mögliche Rolle ganz offensichtlich die des devoten Schülers ist, und das, da mag Eduard noch so jung sein, nein danke.
    Zu jeder Seminarsitzung liest ein Teilnehmer seine Gedichte vor. Diese Woche ist eine gewisse Maschenka dran, die, ich zitiere Eduard, in weite, scheißbraune Kleider gewandet ist und jene Art von leidenschaftlich-melancholischem Gesicht hat, das allen Dichterinnen eigen ist, die in den Kulturhäusern der Sowjetunion ein- und ausgehen. Ihre Verse passen zu ihrem Äußeren: Plagiate von Pasternak mit zarten Lyrismen und absoluter Vorhersehbarkeit. An Tarkowskis Stelle würde Eduard ihr raten, sich vor die U-Bahn zu werfen, aber der Meister begnügt sich damit, sie väterlich vor zu perfekten Reimen zu warnen und zu diesem Gegenstand eine Anekdote zum Besten zu geben, deren Held sein verstorbener Freund Ossip Emiljewitsch ist. Ossip Emiljewitsch, das ist Mandelstam, und Anekdoten über Ossip Emiljewitsch und Marina Iwanowna (Zwetajewa) gibt es jede Woche. Eduard kocht vor Wut und Enttäuschung. Er möchte selbst seine Verse vorlesen und alle damit vom Hocker reißen. Am nächsten Montag das Gleiche. Auch am übernächsten. Er spürt, dass er nicht der einzige ist, der frustriert darauf wartet, endlich einmal an die Reihe zu kommen, und so geht er nach dem Seminar mit den anderen etwas trinken – auch wenn zwei Biere zu 42 Kopeken für sein Budget bedeuten, am nächsten Tag nichts zu essen –, und er versucht, eine Revolte in der Art eines seiner Helden anzuzetteln, des Matrosen auf dem Panzerkreuzer Potemkin , der plötzlich ausruft: »He, Leute, was soll das? Die geben uns vergammeltes Fleisch zu essen!« Zuerst nehmen die Dichter dieses Jüngelchen aus der Provinz mit der Stupsnase und der schrillen Stimme nicht ernst, doch dann zieht er sein Heft heraus, beginnt zu lesen, und bald hört ihm die ganze Gruppe mit zunehmender Sprachlosigkeit zu. Genau so, erzählt die Legende, lauschten die Götter des Parnass einst einem arroganten, schlecht erzogenen Halbwüchsigen mit dicken, geröteten Händen, der aus den Ardennen kam und Arthur Rimbaud hieß. Unter den Zeugen dieser Szene befindet sich Vadim Delaunay.
    2
    Ich stieß auf seinen Namen, als ich Das Buch der Toten las, ein Buch, in dem Limonow Portraits von berühmten und unbekannten Leuten versammelt, die er im Laufe seines Lebens kennengelernt hat und die das Schicksal teilen, bereits gestorben zu sein. Er beschreibt Vadim Delaunay genau so, wie ich mich an ihn erinnere: sehr jung, höchstens zwanzig, sehr hübsch und sehr warmherzig. Jeder liebte ihn, schreibt er. Er stammte von jenem Marquis de Launay ab, der 1789 die Bewachung der Bastille kommandierte. Seine Familie war nach Russland emigriert, um der Französischen Revolution zu entfliehen, und sicher verdankte er es diesen Wurzeln, dass es ihm erlaubt war, bei einem ausländischen Diplomaten ein- und auszugehen – einer äußerst ungewöhnlichen Tatsache zu Zeiten Breschnews. Er schrieb Lyrik und war das Nesthäkchen der SMOG isten, jener Avantgarde-Bewegung, mit der Brussilowski Eduard und Anna in Charkow in den Ohren gelegen hatte. Ich habe die Daten verglichen: Nichts spricht gegen die Vorstellung, dass Vadim Delaunay am selben Tag, an dem er ein ganzes Mittagessen lang mit einem kleinen französischen Jungen über die drei Musketiere gesprochen hatte, danach zum Seminar von Arseni Tarkowski flitzte und den Anfängen des Dichters Limonow

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