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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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habe ich eine so lebendige Freude empfunden wie an dem Tag, als sie angesichts einer Einladung zu einem Kongress in Moskau befand, ich sei nun groß genug, um mitzukommen.
    Ich erinnere mich an jedes Detail dieser wundervollen Reise. Meine Mutter nahm mich überallhin mit. Beim Mittagessen im Haus des französischen Kulturattachés saß ich bei Tisch neben ihr, lauschte brav den Gesprächen der Erwachsenen und war so glücklich darüber, dass ich mir noch vierzig Jahre später die Namen der Tischgesellschaft aufsagen kann wie ein Mantra: Da gab es einen Professor namens Gilbert Dragon, eine gewisse Nena (nicht Nina oder Lena, sondern Nena), die Frau des Filmemachers Jacques Baratier – der mit Guy Bedos Bonbons mit Pfeffer geschrieben hat –, und einen jungen Mann, der, obwohl er Russe war, einen französischen Namen trug: Vadim Delaunay. Er war sehr jung, sehr gutaussehend und sehr freundlich, eine Art idealer großer Bruder, der mich sofort ins Herz schloss. Wenn ich Lust gehabt hätte zu spielen, hätte er sicher sofort mit mir gespielt. Und da ich gern las, fragte er mich gleich nach meinen Lieblingsautoren. Wie ich war er unschlagbar in allem, was Alexandre Dumas betraf.
    Das war 1968, ich war zehn Jahre alt. Eduard und Anna hatten sich gerade in Moskau niedergelassen. In der Sowjetunion aus eigener Initiative die Stadt zu wechseln ist keine Kleinigkeit. Seit der Revolution und noch heute braucht man eine Wohnsitzgenehmigung, die Propiska , die schwer zu erhalten ist und die sie nicht bekamen, und so waren sie zu einem Leben als Illegale verurteilt, die jederzeit der Willkür von Kontrollen in der Metro ausgeliefert sein konnten. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, bewohnten sie kleine Zimmer am Stadtrand und zogen oft um. Ihr Hab und Gut beschränkte sich auf einen Koffer mit Kleidung, eine Schreibmaschine für die Gedichte und eine Nähmaschine für die Hosen. Sie begannen auch, aus billigem Indienne-Stoff Taschen mit zwei Griffen zu nähen, die einem Modell nachempfunden waren, das sie in einer alten Match von Bach gesehen hatten. Herstellungskosten: ein Rubel, Verkaufspreis: drei. Ihr erster Winter in Moskau war der bitterste des Jahrzehnts; selbst wenn sie alle Kleider, die sie besaßen, übereinander zogen, froren sie die ganze Zeit, so wie sie auch die ganze Zeit Hunger hatten. In der Kantine, in der sie sich ernährten, kratzten sie von dreckigen Tellern die letzten Restchen von Püree und Wurstpellen herunter.
    Am Anfang war ihr Gönner und der Mittelpunkt ihres Soziallebens der Maler Brussilowski, der Charkower, der in Moskau Karriere gemacht hatte. Für sie als quasi Notleidende war sein weiträumiges Atelier mit Tierfellen auf den Diwanen, Landkarten als Lampenschirmen und importiertem Alkohol ein Hafen des Luxus und der Wärme, und wenn man bereit war, seinen Erfolg zu bewundern, war Brussilowski kein übler Kerl. Er empfahl Eduard, seine Eroberung Moskaus mit einem Lyrikseminar bei Arseni Tarkowski zu beginnen – so wie ein französischer Brussilowski einen jungen, ehrgeizigen Provinzler damals wohl in die Vorlesungen von Gilles Deleuze nach Vincennes geschickt hätte. »Aber pass auf«, warnte er, »da herrscht wilder Andrang. Wenn du nicht zu Tarkowskis Jüngern gehörst, kommst du da nicht so einfach rein. Frag nach Rita.«
    An einem Montagabend schiebt Eduard also sein Heft mit Gedichten in die Innentasche seines zu dünnen Mantels – »aus Fischpelz« sagt man auf Russisch – und nimmt die Metro bis zum Sitz des Schriftstellerverbands, einer früheren Patrizier-Villa, die für die der Familie Rostow in Krieg und Frieden Pate gestanden hatte. Er ist eine Stunde zu früh da, aber es gibt schon eine Menge Leute, mindestens zwanzig, die sich wie er die Füße warm treten. Er fragt nach Rita; man sagt ihm, sie sei noch nicht gekommen und würde dies noch tun, aber sie taucht nicht auf. Ein schwarzer Wolga gleitet auf dem verschneiten Gehweg heran. Der Meister steigt aus, in einen eleganten Pelzmantel gehüllt, die weißen Haare nach hinten gebunden, eine englische Pfeife mit aromatischem Tabak im Mund. Selbst sein leichtes Hinken ist vornehm. Eine herablassende Schönheit, die seine Tochter sein könnte, begleitet ihn. Die Türen öffnen sich vor ihnen und schließen sich hinter ihnen, nur eine Handvoll Auserwählter folgt ihnen nach. Eduard erzählt, er habe sechs Montage hintereinander mit dem Fußvolk draußen bleiben müssen; das erscheint mir viel, aber es ist nicht seine Art zu

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