Limonow (German Edition)
Vorort, dem Provinznest Petuschki. Eine Reise von zwei Tagen für 120 Kilometer, ohne Fahrkarte, dafür aber mit der Unterstützung von Unmengen an Litern des übelsten Gesöffs: Wodka, Bier, Wein und vor allem vom Erzähler frei erfundene Cocktails, deren Rezept er jeweils mitliefert. Die »Träne des Komsomol« zum Beispiel, eine Mischung aus Bier, white spirit , Limonade und Fußspray. Ein Alkoholiker als Held, ein trunkener Zug, benebelte Reisende: Die ganze Welt ist im Vollrausch in diesem Buch, das auf der Überzeugung gründet, dass »in Russland alle Menschen, die etwas wert sind, saufen wie Löcher«. Aus Verzweiflung und weil in einer Welt voller Lügen nur der Suff nicht lügt. Seine vorsätzlich schwülstige und groteske Sprache parodiert die sowjetische Phrasendrescherei, und die Sätze verdrehen Zitate von Lenin, Majakowski und Meistern des sozialistischen Realismus. Alle Unders , wie sich die Mitglieder des Underground selbst nannten, erkannten sich in diesem Traktat von der Zwecklosigkeit und vom Komatrinken wieder. In dem von Eduard frequentierten Kreis eifrig wieder und wieder kopiert, gelesen und zitiert, im Westen übersetzt (in Frankreich unter dem Titel Moscou-sur-Vodka ), ist Die Reise nach Petuschki zu einer Art Klassiker geworden und Wenitschka eine Legende: der Versager in seiner metaphysischen Größe, der erhabene Säufer, die grandiose Inkarnation all dessen, was die Zeit an besonders Destruktivem hatte. Man pilgerte und pilgert noch heute zum Bahnhof von Petuschki, vor dem seit einigen Jahren sogar eine Statue von Jerofejew steht.
Als früher Punk war Wenitschka der Spott in Person. Darin unterschied er sich von den Dissidenten, die hartnäckig an eine Zukunft und an die Macht der Wahrheit glaubten. Jetzt, mit dem zeitlichen Abstand von vierzig Jahren, verschwimmen diese Unterschiede etwas, und natürlich lasen die Unders auch die Schriften der Dissidenten und ließen diese zirkulieren, aber mit Ausnahme einiger weniger gingen sie nicht dieselben Risiken ein und waren vor allem nicht von demselben Glauben beseelt. Solschenizyn war für sie eine Art Standbild eines Kommandeurs, mit dem man zum Glück nicht die geringste Chance hatte, zu tun zu bekommen: Er lebte in der Provinz in Rjasan, arbeitete Tag und Nacht und verkehrte nur mit ehemaligen Zeks , deren Zeugnisse, die später das Fundament für den Archipel Gulag schufen, er unter größten Vorsichtsmaßnahmen sammelte. Er kannte diese kleine, eingeschworene, herzliche, im Spott vereinte Welt gar nicht, deren Held Wenitschka Jerofejew und deren aufgehender Stern Editschka Limonow waren, und hätte er sie gekannt, er hätte sie verachtet. Seine Entschiedenheit und seine Courage hatten etwas Unmenschliches, und dies umso mehr, als er das, was er von sich selbst verlangte, auch von anderen erwartete. Er betrachtete es als Feigheit, über irgendetwas anderes zu schreiben als die Lager, denn für ihn kam das einem Verschweigen der Lager gleich.
Im August 1968, einige Monate nach meinem Mittagessen bei dem französischen Kulturattachée, marschierten die Sowjets in die Tschechoslowakei ein und setzten dem Prager Frühling ein blutiges Ende. Um gegen diese Invasion zu protestieren, besaß eine Gruppe von Dissidenten den außerordentlichen Mut, auf den Roten Platz demonstrieren zu gehen. Sie waren zu acht, und es liegt mir daran, ihre Namen hier niederzuschreiben: Larissa Bogoraz, Pawel Litwinow, Wladimir Dremljuga, Tatjana Bajewa, Viktor Fainberg, Konstantin Babizki, Natalja Gorbanewskaja – mit ihrem Baby im Kinderwagen – und Vadim Delaunay. Letzterer trug ein Transparent mit der Aufschrift: »Für eure Freiheit und für unsere«. Die Demonstranten wurden umgehend verhaftet und zu Gefängnisstrafen von unterschiedlicher Dauer verurteilt: Bei Vadim waren es zweieinhalb Jahre. Nach seiner Freilassung und neuerlichen Auseinandersetzungen mit dem KGB emigrierte der junge Mann, mit dem ich seinerzeit so glücklich gewesen war, über Athos, Porthos und Aramis sprechen zu können. Er lebte in Paris, wo ich ihn hätte wiedersehen können, wenn ich es gewusst hätte. Dort starb er im Jahr 1983 im Alter von fünfunddreißig Jahren.
3
Eduard kannte all diese Leute gut. Sie nehmen viel Platz in seinem Buch der Toten ein, denn die Mehrzahl von ihnen starb – auch mit Hilfe des Alkohols – jung. Er mochte Vadim Delaunay sehr, Jerofejew dagegen eindeutig weniger. Sein angebliches Meisterwerk schien ihm schlechter als sein Ruf, wie er auch Der
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