Limonow (German Edition)
eine Avantgarde dar, die sich überholt hat, ein kleines, übriggebliebenes Einweckglas im Keller, eine Nebenrolle in einem kurzen Kapitel von Eduards bewegtem Leben; doch sie selbst haben ihr eigenes vollständig in diesem Weckglas verbracht, und das ist traurig.
Diese Mischung aus Verachtung und Neid macht meinen Helden nicht besonders sympathisch, dessen bin ich mir bewusst; und ich kenne einige Personen in Moskau, die damals mit Eduard zu tun hatten und sich an einen unerträglichen jungen Kerl erinnern. Dieselben Personen geben jedoch auch zu, dass er ein geschickter Schneider, ein sehr talentierter Dichter und auf seine Weise ein ehrlicher Typ war. Arrogant, aber von einer unerschütterlichen Loyalität. Ohne jede Nachsicht, aber aufmerksam, neugierig und sogar hilfsbereit. Und selbst wenn Eduard der Meinung war, dass sein Freund Igor sich zu Recht für einen Versager hielt, verbrachte er letztlich die ganze Nacht damit, ihn wieder aufzubauen – ohne ihn deswegen über die Ursache seines Schmerzes hinwegzutrösten. Selbst jenen zufolge, die ihn nicht mochten, war Eduard einer, auf den man sich verlassen konnte, einer, der niemanden fallen ließ und sich um jeden kümmerte, der krank oder unglücklich war, selbst wenn er ihn sonst nur mit Dreck bewarf – und ich denke, dass viele selbsternannte Menschenfreunde, die den Mund voll haben mit Worten über Wohlwollen und Mitleid, in Wirklichkeit egoistischer und gleichgültiger sind als dieser junge Kerl, der sein ganzes Leben damit verbracht hat, sich als einen bissigen, gemeinen Typ zu zeichnen. Ein Detail: Bei seiner Ausreise lässt er etwa dreißig Gedichtsammlungen von anderen Lyrikern zurück, die er selbst sorgfältig zusammengestellt und gebunden hat. Denn, so sagt er beiläufig, »es gehört zu meinem Lebensprojekt, mich für andere zu interessieren«.
4
Sie haben sich in Moskau eingelebt, Aufträge für Hosen strömen herein, sie führen das mehr oder weniger freudvolle Leben von Bohemiens, aber was Anna bei ihrem Wegzug aus Charkow befürchtete, beginnt sich zu bewahrheiten: Der kleine Dreckskerl betrügt sie nicht, denn die eheliche Treue gehört zu seinem Moralkodex, aber er ist verführerisch und strotzt vor Gesundheit und Lebenslust, während sie eine dicke, verlebte, verfallende Frau ist, die vom Wahnsinn eingeholt wird, der sich lange hatte im Zaum halten lassen. Sie macht Eduard Szenen, das ist nichts Neues. Aber schlimmer: Sie ist zeitweilig völlig geistesabwesend und hat Momente von äußerster körperlicher Erschöpfung. Manchmal schlägt sie mitten auf der Straße hin. Eines Tages erklärt sie ihm mit starrem Blick: »Du wirst mich töten. Ich weiß, dass du mich töten wirst.«
Anna wird für einige Wochen in die Psychiatrie eingewiesen. Wenn er sie besucht, ist sie meist völlig starr und ganz benommen von den starken Beruhigungsmitteln, aber es kommt auch vor, dass er sie ans Bett gebunden findet, weil sie sich mit anderen Insassinnen geprügelt hat – man denkt an Insassen, nicht an Kranke, so sehr gleicht die Atmosphäre einer Strafvollzugsanstalt.
Bei ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus schickt man sie zur Erholung zu Freunden von Freunden, die in Litauen ein kleines Haus am Meer haben. Eduard begleitet sie, trägt Sorge für ihre Einquartierung und spricht sich hinter ihrem Rücken mit der Hausherrin Dagmar ab, damit Anna ihre Medikamente einnimmt. Dagmars Vater, ein alter, bärtiger Maler mit dem Kopf eines Fauns schlägt vor, die Genesende in die Aquarelltechnik einzuführen: Das würde sie beruhigen. Gute Idee, pflichtet Eduard bei und kehrt allein nach Moskau zurück, wo er am Abend des 6. Juni 1971 zur Geburtstagsfeier seines Freundes Sapgir geht.
Sapgir ist wie Brussilowski eine der wenigen Anna und ihm bekannten Personen, die sich gut durchs Leben schlagen. Als Autor von Erzählungen voller Bären und Russalken , die von sämtlichen Kindern im Land gelesen werden, besitzt er eine schöne Wohnung, eine Datscha und Beziehungen sowohl in den Underground wie auch in die Welt der offiziellen Kultur. Bei ihm trifft man Leute wie die Brüder Michalkow, Nikita und Andrei, beides talentierte Filmregisseure, die auch im Ausland berühmt sind und mit derselben Geschicklichkeit zwischen Gefügigkeit und Wagemut lavieren wie ihr Vater, der als Dichter ebenfalls eine Berühmtheit ist und der zwischen der Morgen- und der Abenddämmerung seiner langen Karriere immer wieder Wege fand, um Hymnen an Stalin und Putin zu komponieren.
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