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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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das Land verlassen – und genau das hatte sich der Machtapparat bei der Öffnung dieses Sicherheitsventils ausgerechnet.
    Die letzten Tage waren ergreifend. Mit einem Freund zu lachen, sich unter eine Linde zu setzen, unter den Kronleuchterreihen die Rolltreppe der Metrostation Kropotkinskaja hinaufzufahren und zwischen den Kiosken der Blumenverkäufer im Duft des Moskauer Frühlings ins Freie zu treten: Mit Bestürzung wurde einem klar, dass man all das, was man tausende Male getan hatte, ohne darauf Acht zu geben, nun zum letzten Mal tat. Jedes Körnchen dieser so vertrauten Welt würde bald und endgültig unerreichbar sein: eine Erinnerung, eine Seite, die man umgeblättert hat und nicht noch einmal würde lesen können, Nahrung für eine unheilbare Nostalgie. Dieses wohlbekannte Leben für eines zu verlassen, von dem man sich viel erhoffte, aber fast nichts wusste, war eine Art Sterben. Und die Zurückbleibenden bemühten sich, falls sie einen nicht verfluchten, die Freude über die Abreise zu teilen, aber in der Art von Gläubigen, die ihre Angehörigen an die Tore einer besseren Welt geleiteten. Sollte man jubeln, weil sie dort drüben glücklicher sein würden als hier? Oder weinen, weil man sie nie wiedersehen würde? Im Zweifelsfall betrank man sich. Einige dieser Abschiedstouren verwandelten sich in solch wilde Sapojs , dass die Ausreisenden erst dann wieder verstört zu sich fanden, als das Flugzeug bereits in der Luft war. Nun würde es keinen Rückflug mehr geben, die Tür war zugeschlagen und würde sich nicht wieder öffnen; und so blieb allen nur übrig, noch ein Glas zu trinken, sei es, um damit eine von nun an bodenlose Verzweiflung zu ersäufen, oder um sich zu bedanken, selbst mit heiler Haut davongekommen zu sein, wie sich die Freunde mit einem Stoß in die Rippen immer wieder beteuerten: »Hier geht’s uns doch besser, oder? Zusammen. Zuhaus.«
    So wenig sentimental Eduard auch ist und so groß sein Vertrauen in die strahlende Zukunft auch war, die Elena und ihn in Amerika erwarten würde, so musste doch zwangsläufig auch er spüren, wie ihm die Seele herausgerissen wurde. Ich vermute, dass er Elena begleitete, als sie Abschied von ihrer Familie nahm – eine Familie von Militärs, allerdings von sehr viel höherem Rang als die seine –, umgekehrt jedenfalls weiß ich, dass sie mit ihm den Zug nach Charkow nahm und nicht nur Wenjamin und Raja kennenlernte – die vollkommen sprachlos waren über die Verwegenheit ihres Sohnes und gleichzeitig bestürzt, ihn zu verlieren –, sondern auch Anna, die, durch Nachbarn vom Blitzbesuch ihres ehemaligen Gefährten in Kenntnis gesetzt, bei den Sawenkos auftauchte, um einen hysterischen Anfall in bester dostojewskischer Tradition hinzulegen: Sie warf sich der jungen, verführerischen Frau zu Füßen, die ihm den kleinen Dreckskerl weggeschnappt hatte, küsste ihr weinend die Hände und beteuerte ihr immer wieder, wie schön sie sei, wie gut sie sei, wie vornehm und überhaupt all das, was Gott und die Engel liebten, während sie, Anna Jakowlewna, eine arme, dicke, hässliche Jüdin sei, verloren und unwürdig, auf der Welt zu sein und auch nur den Saum ihres Kleides zu berühren. Um Anna in nichts nachzustehen und vielleicht auch, weil sie sich an das Benehmen von Nastassja Philippowna im Idiot erinnerte, hob Elena die Unglückliche auf, küsste sie überschwänglich und löste schließlich theatralisch ein schweres, schönes, aus Familienbesitz stammendes Armband vom Handgelenk und bestand darauf, es ihr in Erinnerung an sie zu schenken. Und auf dem Gipfel der Exaltiertheit rief sie: »Bete für mich, liebe gute Seele! Versprich mir, dass du für mich beten wirst!«
    Im Zug zurück, während die armen, bereits zusammengesunkenen Silhouetten seiner Eltern auf dem Bahnsteig kleiner wurden, die mit ihren Taschentüchern winkten in der Gewissheit, ihren einzigen Sohn nie wieder zu sehen, ging Eduard ein Gedanke durch den Kopf: Wenn Elena sich den Luxus erlaubt hatte, der Wahnsinnigen Anna dieses schöne Schmuckstück zu schenken, dann deshalb, weil sie mit einem anderen, noch schöneren rechnete. Am Abend vor ihrer Abreise verabschiedeten sie sich von Lili Brik, und die gute alte Haut stattete sie tatsächlich mit den versprochenen Empfehlungsschreiben aus (»Ich vertraue dir zwei wunderbare Kinder an. Sorge für sie. Sei ihnen eine gute Fee«, schrieb sie an ihre Ex-Rivalin Tatjana), aber zum ersten Mal, seit Eduard und Elena sie besuchten, trug sie

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