Limonow (German Edition)
ihr wertvolles Armband nicht, und während des ganzen Treffens war auch keine Rede mehr davon.
III
New York,
1975–1980
1
Ein Franzose, der zum ersten Mal nach New York kommt, ist beim Anblick der Stadt nicht weiter verblüfft, oder wenn er es ist, dann weil sie dem so ähnelt, was er aus Filmen von ihr kennt. Für Eduard und Elena, Kinder des Kalten Kriegs und eines Lands, in dem amerikanische Filme verboten sind, ist diese ganze Bildwelt neu: der Dampf, der aus Lüftungsschächten strömt; Metallleitern, die wie Spinnen an den Hauswänden aus geschwärzten Ziegeln kleben; die Neonlichter, die auf dem Broadway ineinanderfließen; die skyline von einem Rasen im Central Park aus gesehen; die unablässige Betriebsamkeit, die Sirenen der Polizeiwagen, die gelben Taxis und die schwarzen Schuhputzer; Leute, die allein vor sich hin reden, während sie auf der Straße gehen, ohne dass jemand einschreitet … Für jemanden aus Moskau ist es wie ein Wechsel vom Schwarz-Weiß- zum Farbfilm.
Die ersten Tage ziehen sie durch Manhattan, halten sich bei den Händen oder um die Taille, blicken fiebrig um sich, über sich, schauen sich dann gegenseitig an, platzen los vor Lachen und küssen sich noch gieriger. Sie haben einen Stadtplan gekauft, in einer Buchhandlung, wie sie noch nie eine gesehen haben: Statt unter Verschluss oder hinter dem Ladentisch befinden sich die Bücher in Reichweite vor ihnen aufgereiht wie Knöpfe in einer Kurzwarenhandlung. Man kann sie aufschlagen und darin blättern, man kann sie sogar lesen, ohne zum Kauf verpflichtet zu sein. Und der Stadtplan versetzt sie mit seiner Zuverlässigkeit in sprachloses Staunen: Wenn er ankündigt, die zweite Straße rechts sei St. Mark’s Place, dann ist es auch St. Mark’s Place – ein Ding der Unmöglichkeit in der Sowjetunion, wo die Stadtpläne, so man denn welche findet, garantiert falsch sind; entweder, weil sie aus einer Zeit von vor dem Krieg stammen oder weil sie großen Bauarbeiten vorgreifen und die Stadt so zeigen, wie man sie in fünfzehn Jahren auszusehen hofft, oder auch aus purer Lust, den Besucher zu verwirren, denn dieser steht immer mehr oder wenig unter Spionageverdacht. Sie laufen durch die Straßen, gehen in viel zu teure Kleiderläden, in Diners und Fast-food -Lokale oder kleine Kinos mit zwei Filmen zum Preis von einem, von denen einige Pornofilme zeigen, und auch das begeistert sie. Elena wird im Sessel neben Eduard feucht, sagt es ihm und er stimuliert sie. Wenn die Lichter wieder angehen, entdecken sie rundherum ein Publikum von Singles, das Elenas Stöhnen mehr erregt haben muss als der Film, und er, Eduard, platzt vor Stolz, eine so schöne Frau zu haben und von diesen armen Typen beneidet zu werden und selbst nicht aus sexueller Not in diesen Ausnahmeort geraten zu sein, sondern aus Lust an merkwürdigen und exotischen Erfahrungen, wie sie den wahren Libertin auszeichnet.
Als sie Moskau verließen, sprach Elena ein rudimentäres Englisch, Eduard dagegen kein Wort – er beherrschte nur das kyrillische Alphabet –, doch im Laufe der zwei Monate in einem Auffanglager für Emigranten in Wien, in dem sie pausenlos tricksten, um nicht in die Schlange nach Israel zu geraten, brachten sie sich beide Grundkenntnisse bei und radebrechten zunehmend jenes broken english , mit dem sich in der Tat sehr viele Ausländer in New York durchschlagen. Zudem sind sie schön, jung und verliebt, und jedermann hat Lust, sie anzulächeln und ihnen behilflich zu sein. Wenn sie eng umschlungen eine verschneite Straße im Greenwich Village entlangspazieren, sind sie sich bewusst, Bob Dylan und seiner Freundin auf dem Plattencover von Blowin’ in the Wind zu ähneln. In Charkow war diese Platte das wertvollste Stück in Kadiks Sammlung. So sorgfältig, wie er sie behandelte, besitzt er sie wahrscheinlich immer noch und hört sie ab und zu hinter Lydias Rücken an, wenn er aus der Fabrik »Der Kolben« nach Hause kommt. Ob er dabei an seinen verwegenen Freund Eddy denkt, der nach Übersee gegangen ist? Natürlich tut er das, er wird sein ganzes Leben lang voll Bewunderung und Bitterkeit an ihn denken. Armer Kadik, denkt Eduard, und je mehr er über Kadik nachsinnt und über all jene, die er in Saltow, Charkow und Moskau hinter sich gelassen hat, desto inniger dankt er dem Himmel, dass er er selbst ist.
Sie haben zwei Adressen in der Tasche: die von Tatjana Liberman, der Freundin und Ex-Rivalin von Lili Brik, und die von Brodsky, die man in der kleinen
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