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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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Verve, ihnen ganz ruhig zu antworten: »Die etablierte Literatur, die veröffentlichten Zeitschriften und Romane halte ich ein für allemal für null und nichtig. Nicht, dass auf diesem Boden keine Talente heranwüchsen (es gibt welche), aber sie gehen ein, denn dieser Boden ist unfruchtbar, weil man auf ihm einwilligt, die kapitale Wahrheit nicht zu sagen , diejenige, die einem in die Augen springt, ohne dass es dazu der Literatur bedürfe.« Diese kapitale Wahrheit ist natürlich der Gulag. Und weil der Gulag schon vor Stalin existierte und auch nach ihm noch weiterexistiert, sei klar, dass er nicht eine Krankheit des sowjetischen Systems ist, sondern sein Wesen und sogar seine Bestimmung. Solschenizyn verbrachte zehn Jahre damit, heimlich die Zeugnisse von zweihundertsiebenundzwanzig ehemaligen Zeks zu sammeln – er vergrub seine Manuskripte und ließ sie auf Mikrofilm aufnehmen, um sie in den Westen zu schaffen – und mit seiner winzigen Handschrift dieses Denkmal zu errichten: Der Archipel Gulag , der Anfang 1974 in Frankreich und in den Vereinigten Staaten erscheint und den man in Radio Liberty öffentlich zu lesen beginnt.
    Der Mann, der damals gerade die Leitung des KGB übernimmt, Juri Andropow, begreift, dass diese Bombe für das Regime gefährlicher ist als das gesamte Arsenal an amerikanischen Atomwaffen, und er ergreift die Initiative und versammelt das Politbüro zu einer Dringlichkeitssitzung. Das Protokoll dieser Krisensitzung wurde 1992 der Öffentlichkeit zugänglich, als Boris Jelzin die Archive freigab: Es ist ein echtes Theaterstück, das es wert wäre, aufgeführt zu werden. Der schon sehr geschwächte Breschnew sieht keine wirkliche Gefahr. Er ist natürlich dafür, diese Attacke »auf alles, was wir unser Heiligstes nennen« als bürgerliche Propaganda anzuprangern, aber unterm Strich solle man sie nicht zu wichtig nehmen: Das legt sich schon wieder, so wie sich auch die Proteste gegen den Einmarsch in die Tschechoslowakei wieder gelegt haben. Podgorny, der Vorsitzende des Präsidiums, teilt diesen Fatalismus nicht. Schäumend vor Wut klagt er an, das System sei inzwischen so verweichlicht, dass man nicht einmal mehr an die Lösung denke, die der gesunde Menschenverstand nahelege: eine Kugel ins Genick und fertig. In Chile zierten sie sich da nicht so, und nun gut, unter Stalin habe man vielleicht ein bisschen übertrieben, aber dafür übertreibe man jetzt in umgekehrter Richtung. Der etwas diplomatischere Kossygin schlägt eine Verbannung jenseits des Polarkreises vor. Und während all dieser Tiraden glaubt man, Andropow seufzen zu hören und flehentlich zum Himmel aufblicken zu sehen, und als er schließlich das Wort ergreift, sagt er: »All das ist ja sehr nett, meine lieben Freunde, aber es ist zu spät. Die Kugel in den Nacken hätte man vor zehn Jahren abfeuern müssen; jetzt blickt die ganze Welt auf uns, und es ist unmöglich, Solschenizyn auch nur ein Haar zu krümmen. Nein, der letzte Coup, der uns bleibt, ist die Ausweisung.«
    Alles an Solschenizyns Schicksal ist groß, und so wurde er zwei Tage nach dieser Sitzung gewaltsam in ein Flugzeug nach Frankfurt gesetzt und dort von Willy Brandt wie ein Staatschef in Empfang genommen. Seine Ausbürgerung machte jedoch eines deutlich und verdross den aufbrausenden Podgorny ganz zu Recht so sehr: Dem sowjetischen System war die Kraft und die Lust ausgegangen, Angst einzuflößen; von nun an würde es die Zähne fletschen, ohne selbst an seine Drohgebärden zu glauben, und statt die unbeugsamen Geister zu exekutieren, würde es sie lieber wegschicken, damit sie der Teufel anderswo hole. Anderswo, das bedeutete in Israel, ein Reiseziel, für das man in diesen Jahren Reisepässe mit großer Freigebigkeit auszustellen begann. Um in den Genuss eines solchen zu kommen, musste man theoretisch Jude sein, aber damit nahmen es die Behörden nicht so genau, wie sie überhaupt dazu tendierten, erwiesene Stänkerer als eine Art von Juden anzusehen – und damit war der Antrag von Limonow legitim.
    Als ich ihn zu den Umständen seiner Ausreise befrage, erzählt er mir von einer Einbestellung in die Lubjanka, dem Moskauer Sitz des KGB  – einem ganz besonders düsteren Gebäude, das man betrat, ohne sicher zu sein, es auch wieder zu verlassen, und allein dessen Erwähnung jeden schon erzittern ließ, nur nicht Limonow. Er sei mit den Händen in den Taschen und praktisch pfeifend hineingegangen, immerhin gehörte sein Vater zum Club; außerdem

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