Limonow (German Edition)
sie.
Sehr viel später sprechen sie darüber. Sie sagt ihm, dass sie es erregend fand, aber dachte, wenn er noch einmal damit anfinge, würde er bis ans Ende gehen, und deshalb sei sie gegangen. »Du hast recht gehabt«, gibt er zu. »Ich hätte noch einmal angefangen, und ich wäre bis ans Ende gegangen.«
Am Tag, als er vom Einkaufen zurückkehrt und die Schränke leer vorfindet, ist er jedenfalls nicht überrascht. Er sucht in den Schubläden, unterm Bett, im Mülleimer nach Spuren von ihr und legt alles, was er findet – eine Strumpfhose mit Laufmaschen, ein Tampon, schlechte, zerrissene Fotos – unter die Ikone. Er zündet eine Kerze an. Wenn er eine Kamera hätte, würde er ein Foto von diesem Mahnmal machen – das Mahnmal der Heiligen Helena, denkt er feixend. Er setzt sich einen Moment lang davor, so wie sich die Russen für ein kurzes Gebet hinsetzen, bevor sie verreisen.
Dann geht er hinaus.
3
Er, der sich an alles erinnert, erinnert sich an nichts von dem, was in der Woche darauf geschah. Er muss in den Straßen herumgelaufen sein, vor Jean-Pierres Haus auf der Lauer gelegen und sich mit Jean-Pierre oder einem anderen geprügelt haben – einige Blutergüsse zeugen davon –, doch vor allem muss er getrunken haben bis zum Umfallen. Sapoj total, ein Kamikaze- Sapoj , ein außerirdischer Sapoj . Er weiß nur noch, dass Elena am 22. Februar 1976 gegangen und er am 28. in einem Zimmer des Hotels Winslow aufgewacht ist, mit dem tapferen Lionja Kossogor an seinem Bett.
Während der ersten Tage verlässt er weder dieses Zimmer noch dieses Bett. Er ist zu schwach, zu übel zugerichtet, und wo sollte er auch hingehen? Keine Frau mehr, keine Arbeit mehr, keine Eltern mehr, keine Freunde. Sein Leben ist auf diesen Radius zusammengeschrumpft: vier Schritte lang, drei Schritte breit, ein abgenutzter Linoleumboden, Laken, die alle zwei Wochen gewechselt werden, und ein Geruch nach Chlorreiniger, der versucht, den nach Pisse und Erbrochenem zu überdecken – genau das, was ein Typ wie er braucht. Bis jetzt hatte er stets an seinen Stern geglaubt und gemeint, sein Leben als Weltenbummler führe ihn immer weiter und der Film ende gut. Gut, das hieß, auf die eine oder andere Weise berühmt zu werden, die Welt wissen zu lassen, wer Eduard Limonow ist oder, im schlimmsten Fall, wer er war. Jetzt, da Elena fort ist, glaubt er nicht mehr daran. Er glaubt, dass dieses erbärmliche Zimmer nicht eine Kulisse unter anderen ist, sondern die letzte: diejenige, auf die alles Frühere zusteuerte. Endstation, er kann sich nur noch sinken lassen. Die Hühnerbrühe trinken, die ihm der tapfere Lionja Kossogor zubereitet. Schlafen und darauf hoffen, nicht mehr aufzuwachen.
Das Hotel Winslow ist eine Hochburg jener meist jüdischer Russen, die wie er zur »dritten Emigrationswelle« der siebziger Jahre gehören, und er ist in der Lage, sie auf der Straße an der Aura von Verdrießlichkeit und Unglück, die sie ausstrahlen, selbst von hinten zu erkennen. Sie sind es, an die er dachte, als er den Artikel schrieb, der ihm den Job kostete. In Moskau oder Leningrad waren sie Dichter, Maler, Musiker, wackere Unders , die sich in ihren Küchen gegenseitig wärmten, und jetzt in New York sind sie Tellerwäscher, Anstreicher und Möbelpacker; und sie mögen sich noch so sehr bemühen, weiter an das zu glauben, woran sie anfangs glaubten – dies alles sei nur ein Provisorium und eines Tages werde man ihr wahres Talent entdecken –, sie wissen genau: Es ist nicht wahr. Und so bleiben sie unter sich und sprechen Russisch, betrinken sich, klagen, reden von der Heimat und träumen davon, man ließe sie zurückkehren – doch man wird sie nicht zurückkehren lassen: Sie werden reingelegt und um ihr Leben betrogen sterben.
Im Winslow gibt es einen von dieser Sorte, bei dem Eduard jedes Mal, wenn er ihn in seinem Zimmer aufsucht, um ein Glas mit ihm zu trinken oder ihn um einen Dollar anzupumpen, glaubt, er habe einen Hund, denn es riecht nach Hund, in einer Ecke liegen abgenagte Knochen und auf dem Linoleumboden sogar Hundehaufen, aber nein, er hat keinen Hund, er hat noch nicht einmal einen Hund, er ist sterbenseinsam und liest ganze Tage lang immer wieder die wenigen Briefe, die ihm seine Mutter geschrieben hat. Ein anderer tippt den ganzen Tag lang auf der Schreibmaschine, ohne jemals auch nur irgendetwas zu veröffentlichen, und lebt in panischer Angst, seine Nachbarn hätten es auf sein Zimmer abgesehen. Es nützt nichts, ihm
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