Limonow (German Edition)
beginnt von vorn. Der Dichter Jessenin, so erzählt die Legende, schrieb Gedichte mit seinem Blut. Wird die Legende erzählen, der Dichter Limonow habe sich mit Wichse besoffen? Leider wird es wahrscheinlich gar keine Legende geben, niemand wird wissen, wer der Dichter Limonow war, dieser arme russische Junge, verloren in Manhattan, Leidensgenosse von Lionja Kossogar, Edik Brutt, Aljoscha Schneierson und anderen Typen, die so sterben werden, wie sie gelebt haben: von aller Welt vergessen.
Voller Selbstmitleid schaut er seinen Körper an, der schön, jung und kräftig ist und den keiner braucht. Viele Frauen, die ihn so allein und nackt auf seinem Bett sähen, würden ihn berühren wollen, und viele Männer auch. Seit Elena ihn betrogen hat, sagt er sich oft: Es wäre besser, eine Möse zu haben als einen Schwanz, und es ist besser, der Gejagte zu sein als der Jäger, und er wünscht sich, jemand würde sich um ihn kümmern wie um eine Frau. Im Grunde genommen wäre es gut, schwul zu sein. Mit dreiunddreißig sieht er aus wie ein Jugendlicher, und er weiß, dass er Männern gefällt, er hat ihnen immer schon gefallen. Dem Ehrenkodex von Saltow treu, hatte er ihr Begehren immer verhöhnt, aber jetzt ist ihm der Ehrenkodex von Saltow wurst. Er hat das Bedürfnis, beschützt und umsorgt zu werden, auch wenn er die, die ihn beschützen und umsorgen, von oben herab behandelt. Er hat das Bedürfnis, an Elenas Stelle Elena zu sein.
Er legt sein Problem einem schwulen Russen dar, und dieser stellt ihm einen amerikanischen Schwulen vor. Der Amerikaner heißt Raymond, ist ungefähr sechzig, erfolgreich und kultiviert, hat gefärbte Haare und wirkt nett. In dem schicken Restaurant, in dem ihr erstes Treffen stattfindet, beobachtet Raymond Eduard mit dem gerührten Lächeln eines Menschenfreunds, der einem armen kleinen Jungen ein warmes Essen bezahlt, wie er seinen Krabbencocktail mit Avocados verschlingt. »Iss nicht so schnell«, sagt er zu ihm und streichelt seine Hand. Eduard ahnt, was die Kellner denken, und es gefällt ihm, für das gehalten zu werden, was er beschlossen hat zu sein: eine kleine Schlampe. Seine einzige Sorge ist, dass dieser arme Raymond selber so wirkt, als sei er auf der Suche nach Liebe, das heißt auf der Suche danach, Liebe zu bekommen, und nicht nur bereit, welche zu geben. Nach Eduards Vorstellung gibt es in der Liebe denjenigen, der gibt, und denjenigen, der empfängt, und er ist der Meinung, für seinen Teil genug gegeben zu haben.
Nach dem Mittagessen gehen sie zu Raymond, nehmen auf dem Sofa nebeneinander Platz, und Raymond beginnt, ihm durch seine Jeans hindurch den Schwanz zu befummeln.
»Komm«, hört Eduard sich sagen, nimmt Raymond bei der Hand und zieht ihn ins Schlafzimmer, aufs Bett. Während Raymond sich abmüht, die Schnalle von Eduards schwerem Militärgürtel zu lösen, einem Erbstück von Wenjamin und dem NKWD , wirft Eduard den Kopf mit halbgeschlossenen Augen von links nach rechts, wie er es bei Elena gesehen hat. Eduard versucht überhaupt alles so zu tun wie Elena, aber er wird nicht steif. Raymond, dem es endlich gelungen ist, Eduards verkrümmten Schwanz aus der Jeans zu bugsieren, macht sich mit Händen, Mund, viel gutem Willen und Behutsamkeit ans Werk, doch er erreicht nichts. Ein bisschen verlegen richten sich beide wieder her und kehren ins Wohnzimmer zurück, um ein Glas zu trinken. Als Eduard geht, versprechen sie sich anzurufen, doch weder der eine noch der andere glaubt daran.
Da die warme Jahreszeit gekommen ist, verbringt Eduard oft die ganze Nacht im Freien: in den Straßen oder auf Bänken. Gerade ist er in einem für Kinder reservierten, eingezäunten Teil eines öffentlichen Parks. Es gibt einen Sandkasten, Schaukeln und eine Rutsche. Er erinnert sich an die Nacht in einer ähnlichen, nur etwas heruntergekommeneren Umfriedung – denn alles in der Sowjetunion ist heruntergekommener – mit Kostja, genannt »Die Katze«, der danach einen Mann getötet und zwölf Jahre Lager bekommen hat. Wo ist Kostja jetzt? Lebt er oder ist er tot? Eduard spielt mit dem Sand und lässt ihn von einer Hand in die andere rieseln, da sieht er in der Dunkelheit am Fuß der Rutsche zwei Augen leuchten, die auf ihn gerichtet sind. Er hat keine Angst; schon lange weiß er nicht mehr, was es heißt, Angst zu haben. Er geht auf sie zu: Ein junger Schwarzer liegt zu einer Kugel zusammengerollt in dunklen, sicherlich zerrissenen Klamotten da.
»Hi«, sagt Eduard, »ich heiße Ed,
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