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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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zu lancieren versucht, interessieren niemanden, die Gedichte noch weniger, bleibt also eine Karriere als Polemiker. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Sacharow bietet ihm eine erste Gelegenheit, sich darin zu versuchen.
    Der große Physiker und Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe hat sich vor einigen Jahren auf die Seite der Dissidenz geschlagen und tritt seitdem öffentlich für die Einhaltung der Schlussakte von Helsinki ein, das heißt für die Menschenrechte in seinem Land. Es gibt nicht einen Bericht, der Andrei Sacharow nicht als einen Mann von unerbittlicher intellektueller Strenge und einer moralischen Aufrichtigkeit schildern würde, die an Heiligkeit grenzt, und es gibt keinen Grund, diesen Berichten nicht zu glauben; aber an dem Punkt, an dem wir inzwischen angelangt sind, gibt es auch keinen Anlass, sich zu wundern, dass diese golden strahlende Legende unseren Eduard zur Weißglut bringt. Und so schließt dieser sich zwei Tage lang in sein Kämmerlein ein, um mit wütend-witziger Feder zu erklären, dass Dissidenten von ihrem Volk abgeschnittene Leute seien, die einzig sich selbst repräsentierten oder, wie im Fall von Sacharow, die Interessen ihrer Kaste, der hohen wissenschaftlichen Nomenklatura. Kämen sie oder von ihren Ideen beeinflusste Politiker zufällig an die Macht, wäre das eine weitaus schlimmere Katastrophe als der gegenwärtige Bürokratismus. Das Leben in der Sowjetunion möge ja grau und langweilig sein, aber es sei nicht jenes Konzentrationslager, das sie beschreiben. Und letztlich sei der Westen auch nicht besser, und die Emigranten, die von diesen verantwortungslosen Herrschaften gegen das Land ihrer Herkunft aufgewiegelt würden, erlebten einen totalen Reinfall, wenn sie es verließen, denn die traurige Wahrheit sei, dass niemand in Amerika sie braucht.
    An dieser Stelle spricht er von sich selbst: Denn nach sechs Monaten, die er bei der Russkoje Delo versauert und am Rand des Jetsets den Statisten spielt, beginnt er genau das zu befürchten. Die Zuversicht und Euphorie der Ankunftszeit ist verflogen, und auch sein Artikel trägt den Titel Enttäuschung . Er wird von der New York Times und mehreren anderen angesehenen Zeitungen abgelehnt – beziehungsweise bestätigen die New York Times und die anderen angesehenen Zeitungen nicht einmal seinen Empfang. Am Ende erscheint er mehr als zwei Monate nach dem Anlass, der ihm als Aufhänger diente, in einer obskuren Zeitschrift und wird von jenem Publikum, das er ursprünglich anvisierte – den prominenten New Yorker Leitartiklern und Meinungsmachern –, überhaupt nicht wahrgenommen. Dafür bringt er die kleine Welt der Emigranten in Aufruhr. Mit der sanften Trägheit bei der Russkoje Delo ist es vorbei. Selbst diejenigen, die der Analyse zugestehen, im Kern die Wahrheit zu sagen, finden es unangebracht, sie derart herauszuposaunen: Spielt man damit nicht den Kommunisten in die Hände?
    Eines Morgens ruft der Chefredakteur Moise Borodatich Eduard zu sich. Sein vor Empörung zitternder Zeigefinger deutet auf eine Zeitung, die aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch liegt. Eduard beugt sich darüber: Ein Foto von ihm besetzt die halbe Seite. Es ist ein altes Foto, das in Moskau aufgenommen wurde, dennoch zeigt es ihn am Fuß eines New Yorker Wolkenkratzers. Diese – sowjetische – Zeitung ist die Komsomolskaja Prawda , und unter der Fotomontage steht: »Der Dichter Limonow enthüllt die ganze Wahrheit über die Dissidenten und die Emigration.« Eduard überfliegt den Artikel und hebt mit einem leicht genervten und ein wenig fatalistischen Lächeln den Kopf und versucht, die Sache als Scherz zu betrachten. Moise Borodatich sieht das anders. Nach einem längeren Schweigen sagt er: »Man sagt, du seist ein Agent des KGB .« Eduard zuckt mit den Schultern: »Ist das eine Frage, die Sie mir stellen?« Ohne auf seinen Rausschmiss zu warten, verlässt er das Büro.
    In der Not ist es ein Trost, zu zweit zu sein, doch Elena und er sind immer weniger zu zweit. Sie entgleitet ihm. Im Vertrauen auf die Voraussagen von Lili Brik hatte sie sich ausgerechnet, ein berühmtes Model zu werden, doch Alex Liberman, der ihr mit einem Wort die Türen zur Vogue öffnen könnte, tut nichts dergleichen und beschränkt sich darauf, ihr mit einer Galanterie Komplimente über ihre Schönheit zu machen, die allmählich an Perversität grenzt. Die Assistenten von Avedon und Dalí rufen nicht zurück. Sie entdeckt, was es heißt, eine von der Luxuswelt

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