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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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Auftrag eines russischen Juden arbeitet, der auf Umzüge von russischen Juden spezialisiert ist: Rabbinern und Intellektuellen mit Kisten voller Gesamtausgaben von Tschechow oder Tolstoi in jenen dunkelgrünen sowjetischen Einbänden, deren Kleber immer ein bisschen nach Fisch riecht.
    Um seine Integration besorgt, zahlt der Welfare ihm einen Englischkurs. Außer ihm gibt es dort nur Frauen, Schwarze, Asia tinnen, Latinas, die ihm Fotos von ihren Kindern zeigen – welche piekfein herausgeputzt sind wie alle Kinder von Armen – und die ihm manchmal in Auflaufformen von zu Hause Gerichte mit Süßkartoffeln und Kochbananen mitbringen. Sie erzählen ihm von ihren Ländern, und er erzählt von dem seinen, und sie reißen die Augen auf, wenn er berichtet, dass bei ihm zuhause sämtliche Ausbildungen und medizinische Behandlungen kostenlos sind: Warum hat er solch ein tolles Land verlassen?
    Ja, warum, das fragt er sich selbst.
    Jeden Morgen läuft er zum Central Park, legt sich auf den Rasen und schiebt sich als Kopfkissen die Plastiktüte unter, in der er sein Heft transportiert. Er bleibt stundenlang so liegen und betrachtet den Himmel und unterm Himmel die Terrassen der Apartmenthäuser für Superreiche in der 5th Avenue, wo Leute wohnen wie die Libermans, die er überhaupt nicht mehr sieht und deren vornehme Welt für ihn einem sehr weit entfernten, früheren Leben zugehört. Noch vor einem Jahr steckte er, wenn er zu ihnen ging, in der Haut eines jungen Dichters voller Zukunftsaussichten, er war der Mann einer hübschen Frau, die ein berühmtes Model werden würde – und jetzt ist er ein Penner. Er betrachtet die Leute um sich herum, hört ihren Gesprächen zu und überschlägt für jeden von ihnen die Chance, seiner gegenwärtigen Lage zu entkommen. Für die Penner, die echten zumindest, ist es gelaufen. Die Angestellten und Sekretärinnen, die zur Mittagszeit kommen, um ein Sandwich auf einer Bank zu essen, werden noch ein Stückchen vorankommen, aber nicht sehr weit, im Übrigen rechnen sie auch gar nicht damit. Die beiden jungen Typen mit den Intellektuellengesichtern, die mit wichtiger Miene diskutieren und schreibmaschinengeschriebene Blätter mit Anmerkungen überdecken – wahrscheinlich geben sie ein Drehbuch ab –, sie müssen wohl an ihre bescheuerten Dialoge und an ihre bescheuerten Figuren glauben, und vielleicht tun sie recht daran, vielleicht werden sie es schaffen, vielleicht werden sie Hollywood kennenlernen, die Swimmingpools und Filmsternchen und die Zeremonie der Oscar-Verleihung. Die Sippe der Puertoricaner dagegen, die auf dem Rasen ein ganzes Lager aus Decken, Transistorradios, Babys und Thermosflaschen aufschlägt – bei ihnen kann man sichergehen, dass sie dort bleiben, wo sie sind. Außer – wer weiß? Vielleicht wird ihr sabberndes Baby mit den vollgeschissenen Windeln ihnen die Aufopferung einmal mit außerordentlich guten Studienabschlüssen danken, und es wird Nobelpreisträger für Medizin oder UNO -Generalsekretär. Und er, Eduard, mit seinen weißen Jeans und seinen schwarzen Gedanken, was wird aus ihm? Lebt er gerade nur ein Kapitel seines romanhaften Lebens – Penner in New York – oder ist dieses Kapitel das letzte, das Ende des Buchs? Er holt sein Heft aus der Plastiktüte, stützt den Ellenbogen auf den Rasen und beginnt mit einem Joint im Mund, den er einem dieser kleinen Dealer abgekauft hat, deren Freund er geworden ist, all das niederzuschreiben, wovon ich gerade erzählt habe: der Welfare , das Hotel Winslow, die Gottverlassenen unter den russischen Emigranten, Elena und wie er an den Punkt kam, an dem er jetzt ist. Er schreibt, wie es ihm kommt, ohne dabei an Literatur zu denken, und bald ist er beim zweiten, dann beim dritten Heft; er weiß jetzt, dass es ein Buch werden wird und dass dieses Buch seine einzige Chance ist, um mit all dem fertig zu werden.
    Er betrachtet sich als homosexuell, aber er sieht darin weniger eine Praxis, die er verfolgt – er verfolgt sie kaum –, als eine Gattung, der er sich zuordnet. Eines Nachmittags, als er in Gesellschaft eines jammernden Russen zecht – dieser war in Moskau ein abstrakter Maler und ist jetzt in New York Anstreicher –, kommt ein junger, halb verwahrloster Schwarzer zu ihnen, um eine Zigarette zu schnorren, und aus Provokation baggert Eduard ihn an. Er sagt: » I want you «, nimmt ihn bei den Schultern, küsst ihn, und der Junge lacht und lässt es sich gefallen. Sie gehen zusammen davon, um im

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