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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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Sie bereit.«
    Denn Eduard ist ein Freund des Hauses geworden. Steven, der Künstler zu seinen Freunden zählt, sich rühmt, eine Million Dollar bei der Produktion eines Avantgarde-Films verloren zu haben, und für alles schwärmt, was russisch ist, mochte ihn von der ersten Begegnung an. Stevens Großmutter war Russin, Weißrussin natürlich; sie war nach der Revolution emigriert und sprach in seiner Kindheit Russisch mit ihm, und es sind ihm zwar nur ein paar Worte geblieben, dafür aber, so wie mir auch, ein Akzent des Ancien Régime. Und so gibt er für Russen, die auf Durchreise in New York sind, Empfänge und ist hocherfreut, praktisch dauerhaft einen echten russischen Dichter im Hause zu haben, mit dem er über die Härte, aber auch die Authentizität des Lebens in der Sowjetunion sprechen kann. Eduard erzählt ihm von seinem Aufenthalt in der Psychiatrie und seinen Auseinandersetzungen mit dem KGB . Er dichtet ein bisschen hinzu und arbeitet die allseits geschätzte Version einer politischen Internierung aus. Er weiß, welche Couplets seinem Gesprächspartner gefallen, und serviert sie ihm mit der gebotenen Zuvorkommenheit.
    Er lächelt, räumt die Tassen in den Geschirrspüler und stimmt allem freundlich zu; doch während Steven erfreut über ihren Gedankenaustausch die Treppe hinaufsteigt, um sich einen Anzug für zehntausend Dollar anzuziehen, weil er in ein Restaurant mittagessen geht, wo der Preis der billigsten Vorspeise reichen würde, um eine Familie von Puertoricanern einen ganzen Monat lang zu ernähren, denkt sich Eduard seinen Teil: Er würde diesen Steven gerne mal am Werk sehen, wenn er nicht seinen Haufen Kohle geerbt hätte, sondern sich, allein im Dschungel abgeworfen, mit nichts anderem durchschlagen müsste als seinem Schwanz und seinem Messer. Es ist das erste Mal in seinem Leben, dass Eduard jemanden, der auf der sozialen Leiter so weit oben steht, derart aus der Nähe beobachten kann, und er muss zugeben, dass Steven ein eher menschliches, zivilisiertes Exemplar ist und in keiner Weise der Karikatur des Kapitalisten aus der sowjetischen Bilderwelt ähnelt: dickbäuchig, grausam, einer, der den Armen das Blut aussaugt … All das ist schon richtig, aber es ändert nichts an der Frage: Warum er und nicht ich?
    Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort: Revolution! Aber eine echte, nicht das Gelaber von Carols Freunden oder die vagen Reformen, zu denen die Sozialverräter aller Generationen raten. Nein: Gewalt, aufgespießte Köpfe! In Amerika, denkt Eduard, scheint es dafür düster auszusehen. Eher müsste man zu den Palästinensern gehen oder zu Gaddafi, von dem er Fotos über sein Bett geklebt hat, neben die von Charles Manson und sich selbst im Kostüm des »Nationalhelden« mit der nackten Elena zu seinen Füßen. Angst hätte er nicht davor. Selbst vorm Sterben hätte er keine Angst. Aber es wäre ärgerlich, unbedeutend zu sterben. Wenn Fuck off, Amerika publiziert würde und er den Erfolg hätte, den er verdiente, dann ja: »Skandalautor Limonow von einer Uzi-Salve in Beirut getötet«, damit würde er es auf die Titelseite der New York Times schaffen. Steven und seinesgleichen würden über ihren Pancakes mit Ahornsirup davon lesen und sich träumerisch sagen: »Der hat sein Leben gelebt!« Ja, das würde sich lohnen. Aber nicht der Tod des unbekannten Soldaten.
    Steven erkundigt sich nach seinen Projekten. Er hat ein Buch geschrieben? Warum es nicht übersetzen lassen, wenigstens teilweise? Warum es nicht einem Literaturagenten zeigen? Er kennt einen, den er ihm vorstellen könnte. Eduard folgt dem Hinweis und bezahlt von seinen paar Kröten die Übersetzung der ersten vier Kapitel bis einschließlich der Fickszene mit Chris im Sandkasten. Der Agent bietet sie dem Verlag Macmillan an. Die Antwort lässt auf sich warten, doch das scheint normal zu sein. Eines Morgens geht Eduard nachschauen, wie das Gebäude aussieht, in dem sich sein Schicksal entscheidet. Zwei schwarze Postbeamte rollen einen Container mit einer ganzen Ladung dicker Umschläge durch die Eingangstür. Zwei oder drei Kubikmeter Manuskripte, schätzt Eduard entsetzt. Doch noch grauenhafter ist die Vorstellung, dass da oben in den höheren Etagen ein Typ, den er nicht kennt, einen dieser Umschläge öffnet, den englischen Titel That’s me, Eddy entdeckt und zu lesen beginnt. Natürlich kann es sein, dass er Feuer fängt, dass er am Ende des vierten Kapitels ohne Termin an die Tür des Oberchefs klopft und diesem

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