Limonow (German Edition)
einen Moment lang allein am Tisch sitzen, weil sie jemanden anrufen muss. In ihrer Abwesenheit spult er sich immer wieder ab, was er beschlossen hat, ihr zu sagen, und es begeistert ihn, doch als sie von der Telefonkabine zurückkommt, fragt sie, ob es ihn störe, wenn noch ein Freund dazukäme, und fünf Minuten später ist der Freund da. Der Kerl ist in den Fünfzigern, bestellt sich einen Whisky und benimmt sich ihr gegenüber wie ein liederlicher Besitzer. Neben Eduard sprechen sie miteinander von Leuten, die er nicht kennt, und lachen; dann steht Elena auf, sagt, sie müssten gehen, beugt sich über ihren ehemaligen Ehemann, küsst ihn leicht auf den Mundwinkel und bedankt sich: ist wirklich nett gewesen, hat mich gefreut, dich zu sehen; und der Typ und sie gehen und überlassen ihm die Rechnung für drei.
Er geht über die Madison Avenue nach Hause und mustert die Passanten, vor allem die Männer, und vergleicht: Besser als ich? Schlechter? Die meisten sind besser gekleidet: Hier wohnen die Reichen. Viele sind größer. Einige attraktiver. Aber nur er allein hat das harte und entschlossene Aussehen dessen, der fähig ist zu töten. Und alle, die seinen Blick kreuzen, wenden sich erschrocken ab.
Am Sutton Place angekommen legt er sich hin und wird krank. Zwei Wochen lang pflegt Jenny ihn wie ein Kind. Sie mag das, und als es ihm besser geht, sagt sie ihm voller Bedauern: »Du hast ganz menschlich ausgesehen.«
Es wird wieder Sommer. Ein Jahr ist es her, seit er auf den Rasenflächen des Central Parks sein Buch geschrieben hat. Jenny hat ihn gefragt, ob er mit ihr an die Westküste in die Ferien fahren wolle, und er hat eingewilligt, ein bisschen aus Neugier, ein bisschen aus Feigheit, denn während ihrer Abwesenheit kann er nicht am Sutton Place wohnen, und er scheut sich vor einem August im Hotel Embassy. Sobald sie das Flugzeug verlassen haben und sich mit Jennys Bruder und ihren besten Freundinnen – jene, die er nicht ausstehen kann – in einem Mietauto befinden, begreift er, dass es ein Albtraum werden wird. Nicht dass Kalifornien ihm nicht gefiele, aber man müsste, meint er, in den Armen von Nastassja Kinski hier sein, und nicht mit dieser Bande von Kleinbürgern, die auf Hippies machen, Karottensaft trinken und in erbärmlichen coffee shops , in denen sie die Rechnung teilen und auf einer Ecke der Papiertischdecke den Anteil eines jeden ausrechnen, in tobendes, langanhaltendes Gelächter ausbrechen, um so richtig zu zeigen, dass sie, ihrem Lieblingsausdruck zufolge, »eine gute Zeit« haben. Nach drei Tagen, die er damit verbringt, sich unterhalten zu lassen und dabei den Beleidigten zu spielen, hat er genug und beschließt zurückzufliegen. Jenny versucht nicht, ihn aufzuhalten: Jeder soll tun, was ihm gefällt, solange er die anderen damit nicht stört, so ihr Credo.
New York ist ein Brutkasten, erkennt er, doch zu spät – er hätte lieber an der Westküste bleiben sollen, selbst Venedig wäre im August noch besser als Manhattan, wenn man auf der Straße sitzt. Er fängt wieder an zu schreiben. Keine Gedichte diesmal und keine Erzählung, sondern Kurzprosa, selten länger als eine Seite, und er lädt alles darin ab, was er im Kopf hat. Was er im Kopf hat, ist grauenhaft, aber wofür er Anerkennung verdient, ist die Ehrlichkeit, mit der er auspackt: Da ist Verbitterung und Neid, sein Klassenhass und seine sadistische Phantasien, aber kein bisschen Scheinheiligkeit, keine Scham und keine Entschuldigung. Das Ganze wird später ein Buch werden, eines seiner besten meiner Meinung nach: das Tagebuch eines Versagers . Hier eine Kostprobe:
»Sie werden alle kommen. Die Ganoven und die Schüchternen – die sind hart im Nehmen. Die Dealer und Verteiler von Bordellprospekten. Die Wichser und die Kunden von Pornoheften und -kinos. Die, die allein in Museen die Säle auf- und abgehen oder kostenlose kirchliche Bibliotheken aufsuchen. Die, die zwei Stunden brauchen, um bei McDonald’s ihren Kaffee zu schlürfen, und dabei traurig aus den großen Fensterscheiben gucken. Die Gescheiterten in der Liebe, im Anhäufen von Geld, im Job und diejenigen, die das Pech hatten, in eine mittellose Familie hineingeboren zu sein. Die Rentner, die im Supermarkt in der Schlange für Kunden mit weniger als fünf Artikeln stehen. Die schwarzen Gangster, die davon träumen, eine reiche Weiße aufzureißen, und sie vergewaltigen, weil sie es nicht schaffen. Der grauhaarige doorman , der so gern die verzogene Göre der
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