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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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Alternativen: sich ausmustern zu lassen oder einen Ersatzdienst in der Entwicklungshilfe zu leisten. Nach der Sciences Po entschied ich mich für die Entwicklungshilfe. Man berief mich als Lehrer ans französische Kulturzentrum von Surabaya, einer Industriehafenstadt an der östlichsten Spitze von Java, die als Kulisse für Joseph Conrads Roman Sieg fungierte und deren Name mit seinem exotischen Klang Brecht und Kurt Weill zum Lied Surabaya Johnny inspiriert hatte. Das schöne holländische Anwesen, in dem das Kulturzentrum residierte, hatte während der japanischen Besatzung derselben als Hauptquartier für Gewaltmaßnahmen gedient, etwa wie die Rue Lauriston der französischen Gestapo. Es hatten sich so viele fürchterliche Dinge dort abgespielt, dass man ihm nachsagte, es spuke darin. Zweimal im Jahr kam ein Exorzist, und man hatte allergrößte Schwierigkeiten, Wächter anzuwerben; nur der Garten war zauberhaft. Ich unterrichtete Französisch. Meine Schüler waren Damen der feinen chinesischen Gesellschaft, deren Kinder bereits aus dem Haus waren, die sich ein wenig langweilten und für die das Belegen dieser Kurse so etwas wie Bridgespielen war und zum guten Ton gehörte. Wir übersetzten Artikel aus der Vogue über Catherine Deneuve und Yves Saint Laurent. Ich glaube, sie mochten mich. Bald stieß Muriel zu mir. Wir machten weite Motorrad-Touren und berauschten uns an dem Gewimmel und den Gerüchen Asiens. Und von unseren Experimenten mit halluzinogenen Pilzen inspiriert, begann ich, in Surabaya meinen ersten Roman zu schreiben. Der Erstlingsroman eines Ersatzdienstleistenden war damals praktisch ein eigene kleine literarische Gattung. Jeden Herbst gab es unter den Neuerscheinungen drei oder vier davon: Ein junger Mann aus einem besseren Viertel, der vage von Literatur träumte, fand sich weit von seiner Familie und seinen Freunden entfernt für zwei Jahre in Brasilien, Malaysia oder Zaire wieder, hielt sich für einen Abenteurer und erzählte von seinen Erlebnissen, indem er sie mehr oder weniger romantisch ausschmückte – in meinem Fall eher mehr.
    Sobald ich ein paar Tage Urlaub hatte, fuhren Muriel und ich nach Bali; dort zog uns weniger die Lebensweise der Balinesen an – Dorffeste, traditionelle Musik und alte Riten – als jene der in den lodges von Kuta Beach und Legian niedergelassenen Westler, die von Surfen, magic mushrooms und Strandpartys im Fackelschein geprägt war. Diese hedonistische coole Gesellschaft unterteilte sich in Kasten. Es gab den Plebs von durchreisenden Touristen mit umgehängtem Fotoapparat, die man nicht einmal anschaute; die abgebrannten Rucksackreisenden, deren Obsession, sich nicht übers Ohr hauen zu lassen und für alles den echten Preis zu zahlen, sie unter Verfolgungswahn leiden ließ; die australischen Surfer, unkomplizierte Biertrinker, die Hard Rock hörten und oft hübsche Mädchen dabei hatten; und schließlich die Aristokratie: jene, die Muriel und ich Edel-Hippies nannten und denen zu gleichen wir uns erträumten. Diese mieteten für ganze Saisons schöne Holzhäuser am Strand; sie kamen aus Goa und fuhren weiter nach Formentera; und ihre Kleider aus Leinen oder Seide waren raffinierter als diejenigen, die man in den Dorfboutiquen fand und mit denen sich die Touristen ausstaffierten. Ihr Gras war das beste und ihre Ungezwungenheit natürlicher als die der anderen. Sie machten Yoga und gingen Beschäftigungen nach, die niemals dringend zu sein schienen. Das Einkommen, das ihnen erlaubte, dieses ideale, nonchalante Leben zu führen, stammte aus Geschäften, über die sie nur ausweichend Auskunft gaben: Im Fall der Verwegensten waren es Drogen (verwegen musste man allerdings wirklich sein, denn in Indonesien riskierte man dafür eine lebenslange Haftstrafe unter fürchterlichsten Bedingungen oder sogar die Hinrichtung durch den Strang), bei den kleineren Fischen waren es Edelsteine, Möbel und Stoffe. Dank ihrer Schönheit und ihrer Freundlichkeit wurde Muriel schon bald in diesem Milieu angenommen, zu dem ich, dessen war ich mir bewusst, ohne sie nie Zugang erhalten hätte. Ich wurde eifersüchtig und gab vor, etwas zu verachten, was ich in Wirklichkeit beneidete: Der Knacks, den unsere Beziehung bekam, rührte daher. Trotzdem, je länger wir in Bali herumhingen und die Edel-Hippies frequentierten, umso weniger hatten wir Lust, am Ende meines Ersatzdienstes nach Paris zurückzukehren und unser Studium fortzusetzen oder auf Arbeitssuche zu gehen. An guten Tagen

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