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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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damit den Status eines Orakels; und sie trug große Sorge dafür, um diesen in der Folge nicht durch unvorsichtige Voraussagen wieder aufs Spiel zu setzen. Das zersplitterte Imperium erregte Aufsehen genug, um der Prawda einen Artikel auf der Titelseite wert zu sein, in dem die »traurige Berühmtheit« Hélène Carrère d’Encausse als Vordenkerin einer neuen und besonders gefährlichen Form von Antikommunismus angeprangert wurde. Das hielt meine Mutter allerdings nicht davon ab, im Jahr darauf nach Moskau zu fahren und dort den Verfasser des Artikels zu treffen, einen Historiker, der sie mit leuchtenden Augen fragte: »Haben Sie Ihr Buch mitgebracht? Nicht? Wie schade, ich würde es gern einmal lesen, es scheint eine bemerkenswerte Arbeit zu sein« – ein weiteres Zeichen dafür, dass die ausgehende Breschnew-Ära eindeutig vegetarisch geworden waren.
    Als nunmehr unbestrittene Spezialistin für die Sowjetunion begann meine Mutter sämtliche Publikationen zu erhalten, die in irgendeinem Zusammenhang mit dieser standen. So kam es, dass ich an einem Sonntag dieses grausamen Winters, als ich bei meinen Eltern zum Mittagessen saß, auf ein Buch stieß mit dem perfiden Titel: Ein russischer Dichter bevorzugt große Neger . Die Vorsatzseite enthielt eine Widmung in einer ungelenken, weil wenig ans lateinische Alphabet gewöhnten Handschrift: »Für Carrère d’Encausse vom Johnny Rotten der Literatur.« Trotz meiner damals chronisch schlechten Laune musste ich lächeln, denn ich vermutete, dass der Autor dieser Widmung wohl ebenso wenig wusste, wer »Carrère d’Encausse« war – der er das Buch sicher auf Anordnung seines Verlegers geschickt hatte –, wie meine Mutter wusste, wer Johnny Rotten war. Ich fragte sie, ob sie es gelesen habe. Sie zuckte mit den Schultern und antwortete: »Nur darin geblättert. Es ist langweilig und pornografisch« – zwei Wörter, die in meiner Familie als Synonyme gehandelt werden. Ich nahm das Buch mit.
    Ich fand es nicht langweilig, ganz im Gegenteil, aber es tat mir nicht gut – und das war nicht gerade das, was ich gebrauchen konnte. Mein Wunschziel war, ein großer Autor zu werden, ich fühlte mich Lichtjahre davon entfernt, und das Talent anderer kränkte mich. Die Klassiker und schon gestorbenen Großen waren ja noch hinzunehmen, aber Leute, die kaum älter waren als ich … Im Fall von Limonow beeindruckte mich nicht in erster Linie sein Talent als Schriftsteller. Der Gott meiner Jugend war Nabokov; ich brauchte wirklich lange, um geradlinige, direkte Prosa zu mögen, und befand die Umgangsformen des russischen Dichters wahrscheinlich für ein wenig locker. Wovon er erzählte, nämlich sein Leben, imponierte mir mehr als die Art, wie er darüber schrieb. Aber was für ein Leben! Was für eine Energie! Doch statt mich zu beflügeln, stürzte mich ebendiese Energie leider Seite für Seite ein Stück weiter in die Depression und in meinen Selbsthass. Je länger ich darin las, desto mehr fühlte ich mich in einen glanzlosen, mittelmäßigen Stoff eingenäht und dazu verdammt, die Rolle eines Statisten in der Welt einzunehmen – und zwar eines verbitterten, neidischen Statisten, eines Komparsen, der von den Hauptrollen träumt, während er genau weiß, dass er diese nie spielen wird, weil er nicht genug Charisma, Großzügigkeit und Courage besitzt, weil er von nichts genug besitzt außer diesem grauenhaften Scharfsinn der Versager. Ich hätte mich damit beruhigen können, dass Limonow genau das, was ich empfand, auch empfunden hatte, dass er die Menschheit genau wie ich damals in Starke und Schwache aufteilte, in Gewinner und Verlierer, VIP s und Fußvolk, dass er in der quälenden Angst lebte, zur zweiten Kategorie zu gehören und es exakt diese Angst war, die, so knallhart formuliert, seinem Buch diese Kraft gab. Aber das sah ich nicht. Ich sah nur, dass er gleichzeitig ein Abenteurer und ein veröffentlichter Schriftsteller war, während ich jemals weder das eine noch das andere sein würde; das einzige läppische Abenteuer meines Lebens hatte mit einem Manuskript geendet, das niemanden interessierte, und zwei Schrankkoffern voller lächerlicher Bikinis.
    Nach meiner Rückkehr aus Indonesien hatte ich Arbeit als Filmkritiker gefunden. Ein Verleger, der auf meine Artikel aufmerksam geworden war und eine Sammlung mit Monographien über zeitgenössische Filmemacher herausbringen wollte, schlug mir vor, eine davon über einen Regisseur meiner Wahl zu schreiben, und ich

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