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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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Treppenaufgang, besinnt sich eines anderen, geht zurück, zieht einen Umschlag aus der Tasche, den man ihm für seine Spesen übergeben hat, und er, der sich rühmt, niemals Almosen zu verteilen, holt mehrere 100 Rubel-Scheine heraus – mindestens ein Monatsgehalt –, legt sie auf die Untertasse der Alten und murmelt: »Bete für uns, Großmutter, bete für uns.« Ohne ihren Blick zu suchen, eilt er die Treppe in großen Sätzen hinauf.
    Der weitere Verlauf des Abends ist verworren. Bevor alle gehen, bricht ein Streit los, weil ein Neuankömmling, der später zu Semjonows Tafelrunde gestoßen ist, für alle zahlen will, und Semjonow nimmt ihm das übel: Das hier seien seine Freunde, und er sei es, der hier zahlt, er zahle immer für alle, in seinem Beisein ziehe niemand je sein Portemonnaie heraus. Der junge Mann vom Sicherheitsdienst wirkt plötzlich sehr nervös, und Eduard begreift trotz seines Rauschs, dass die exzessive Großzügigkeit des Neuankömmlings in Wirklichkeit eine Provokation ist. Die Tischgäste erheben sich, wobei sie polternd ihre Stühle zurückschieben, die Muskelprotze nähern sich, die Sache scheint in Richtung der Filme zu laufen, deren kultige Dialoge der junge Mann eben noch zitierte, dann aber beruhigt sich der Ton genauso abrupt, wie er sich erhob, man geht und findet sich draußen im Schnee wieder und danach im Hotel Ukraine, von wo aus Eduard noch einmal versucht, Nataschas Mutter anzurufen – und noch immer hebt niemand ab. Er ist erschöpft, doch es gelingt ihm nicht einzuschlafen. Er versucht zu onanieren; um steif zu werden, denkt er an Natascha, an ihre tatarischen Wangenknochen, die gelben Funken in ihren Augen, an ihre zugleich zarten und anormal breiten Schultern, an ihr inzwischen ausgeleiertes Geschlecht. Er stellt sie sich in einer heruntergekommenen Plattenbau-Wohnung einer Moskauer Vorstadt vor, torkelnd, böse, mit Alkohol-Fahne und entblößtem Unterleib. Er stellt sich vor, wie sie sich von zwei Männern ficken lässt, von jedem in ein Loch, und während er sich auf dieses Bild konzentriert, von dem er erfahrungsgemäß weiß, dass es ihn zum Orgasmus bringt – nun ja, Orgasmus: zum Entleeren –, sagt er sich immer wieder pathetisch, sein Heimatland sei dabei, sich von Mafiosi bumsen zu lassen, sich von Arschlöchern arschficken zu lassen, und es ist das erste Wort, das ihm am nächsten Morgen beim Aufwachen in den Sinn kommt: Arschlöcher. Verdammte Arschlöcher.
    2
    Einige Jahre später wird das Hotel Ukraine wie alle Hotels seiner Kategorie üppige Frühstücke anbieten, mit frischgepressten Fruchtsäften, fünfzehn Sorten von Tee und englischen Marmeladen. Im Dezember 1989 jedoch ist man noch in der Sowjetunion, und vor einem sowjetischen Büffet, das von einer dicken, gereizten Frau wie der Schalter eines Amts verwaltet wird, steht Eduard in der Schlange neben einem Franzosen mit einem schönen, strengen Gesicht. Sehr höflich stellt er sich vor: Er heißt Antoine Vitez, ist Theaterregisseur und hat Eduard wiedererkannt, er hat mehrere Bücher von ihm gelesen und mochte sie sehr. Die beiden Männer setzen sich zusammen, um ihre Heringe und hartgekochten Eier mit fast weißem Eigelb zu essen.
    Vitez ist schon mehrmals in der Sowjetunion gewesen, er spricht ein wenig Russisch, und trotz der von ihm so bezeichneten »Behäbigkeiten« schätzt er auf jeder seiner Reisen, dass hier das wahre Leben zu finden sei: schwer, erwachsen, mit seinem wirklichen Gewicht. Die Gesichter, sagt er, seien echte, zerfurchte, ausgelaugte Gesichter, während man im Westen nur Babygesichter sehe. Im Westen ist alles erlaubt und nichts ist von Bedeutung, hier sei es das Gegenteil: Nichts ist erlaubt, und alles ist von Bedeutung – und das scheint Vitez sehr viel besser zu gefallen. Daher begrüße er die gerade stattfindenden Veränderungen nur halbherzig. Natürlich könne man nicht gegen Freiheit sein und auch nicht gegen Komfort, aber es dürfe nicht sein, dass sich die Seele eines Landes darin verliere. Eduard ist der Meinung, es sei ein wenig zu einfach, die Anderen zum Wohle ihrer Seele vor Komfort und Freiheit schützen zu wollen, wenn man selbst darin lebt, dennoch ist er froh, einen französischen Intellektuellen zu treffen, der nicht trunken ist vor Liebe zu Gorbatschow, und es schmeichelt ihn, dass Vitez seine Bücher kennt; und weil er außerdem völlig hilflos ist, vertraut Eduard sich ihm an:
    »Meine Frau ist irgendwo in Moskau verloren«, sagt er.
    Vitez senkt

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