Limonow (German Edition)
aus dem Ausland kam, ein Wahnsinn war, Russen anzurufen, und die beste Garantie, um diese in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen, aber offenbar ruft man inzwischen an, wen man will. Eduard hat nur eine einzige Nummer bei sich: die von Nataschas Mutter, die er unbedingt erreichen muss und die nicht antwortet. Die Nummern seiner Jugendfreunde hatte er nicht einmal vor fünfzehn Jahren mitgenommen, als er emigrierte, so ausgeschlossen schien es, dass er sie je wieder brauchen könnte, aber vielleicht wissen sie ja von seiner Rückkehr? Vielleicht werden sie alle dort in Ismailowo sein, um ihn zu begrüßen: Cholin, Sapgir, Woroschilow und diejenigen, die von den SMOG isten noch übrig sind. Er weiß nicht, ob er Lust darauf hätte, aber er weiß, dass eine von Semjonow organisierte Veranstaltung wohl kaum unbemerkt bleiben dürfte.
Er hatte Julian Semjonow einige Monate zuvor auf einer Party in Paris kennengelernt. Ohne etwas über ihn zu wissen, hatte er an diesem kleinen, ungehobelten, herzlichen Mann die Aura des Reichtums und der Macht wahrgenommen. Sie sprachen von Gorbatschow – Semjonow war für ihn, Eduard gegen ihn –, dann von Stalin, da war es umgekehrt, und dennoch sprang der Funke über. »Sind Sie in Russland veröffentlicht?«, fragte Semjonow, als er erfuhr, dass Eduard schreibt.
»Nein, und das wird wohl auch lange noch so bleiben.«
Semjonow zuckte mit den Schultern: »Inzwischen publiziert man doch alles.«
»Alles vielleicht, aber nicht mich«, antwortete Eduard stolz. »Ich bin ein Skandalautor.«
»Perfekt«, schlussfolgerte Semjonow, »ich publiziere Sie.«
Am nächsten Tag rief ein Handlanger Semjonows Eduard in dessen Auftrag an, ließ sich einige Proben seiner literarischen Produktion aushändigen und brachte ihm zur Kenntnis, dass sein Chef, ein Autor von Spionageromanen, die sich in der U d SSR in Millionenauflagen verkauften, im verlegerischen Fieber während der Perestroika eine Wochenzeitschrift mit dem Namen Sowerschenno Sekretno gegründet hatte, was man mit Top secret übersetzen könnte: ein auf Verbrechergeschichten spezialisiertes Revolverblatt. Top secret war wie ein Blitz eingeschlagen, und Semjonow hatte ihm ein Verlagshaus an die Seite gestellt, das sowohl Groschenromane als auch das Gesamtwerk George Orwells publizierte. Und so wurde Eduards Buch über seine Kindheit, Die Große Epoche , das er gerade fertiggestellt hatte, im Land seiner Herkunft in einer Auflage von 300000 Exemplaren herausgebracht und er selbst nach Moskau eingeladen – in Begleitung zweier anderer Talente, die Semjonow in der Emigration aufgetrieben hat: die Schauspielerin Fedorowa und den Sänger Tokarew.
Anfang der neunziger Jahre machte ich mit meinem Verleger Paul Otchakovsky-Laurens eine von der französischen Kulturabteilung organisierte Reise nach Russland. Ich habe dieses Publikum kennengelernt, das heute vollkommen verschwunden ist und das leidenschaftlich begeistert war von allem, was aus dem Ausland kam. Paul und ich fanden uns im Audimax der Universität von Rostow am Don vor fünfhundert Personen wieder, die nicht die geringste Ahnung davon hatten, was wir geschrieben und publiziert hatten, aber mit leuchtenden Augen unsere belanglosesten Worte aufsogen, einfach nur, weil wir Franzosen waren. Es war Ruhm in Reinform, losgelöst von jedem Grund, und manchmal bauen wir uns bei Bedarf heute noch gegenseitig mit dieser Erinnerung auf: »Weißt du noch in Rostow …?«
Diese Erfahrung hilft, um mir das von Semjonow organisierte Treffen im Kulturklub von Ismailowo und die Mischung aus Begeisterung und Unwohlsein vorzustellen, die Eduard empfunden haben muss. Er hatte immer davon geträumt, Tausende von Leuten anzuziehen, sie zu verführen und zu manipulieren, doch jetzt weiß er genau, diese Tausende von Leuten sind nicht seinetwegen gekommen, sondern einfach, weil sie alles anzieht, was aus dem Westen kommt, egal, was es ist, und die Werbetrommel, die Semjonow gerührt hat, trug das Ihrige dazu bei: die Marke Semjonow, seine Spionageromane und seine Zeitschrift voller nackter Mädchen und ukrainischer Kannibalen.
Und da steht Semjonow in der Mitte der Tribüne: gedrungen, kahlköpfig, in Anzug, ohne Krawatte. Er stellt seine Gäste vor und betont, wie wichtig es sei, Leute wie sie, die dynamisch und kreativ seien und die Ärmel hochkrempelten, um das Land wieder aufzubauen, in die Sowjetunion zurückzuholen. Der Sänger Tokarew wirft sich in die Brust, die Schauspielerin Fedorowa
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