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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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seine Runde in ein georgisches Restaurant, und Eduard findet, es gleiche den Schwarzmarktrestaurants in französischen Filmen über die Besatzungszeit: Während die Geschäfte für den Normalbürger leergefegt sind, biegen sich hier die Tische unter Fressalien und allen möglichen Sorten von Alkohol. Die Kunden und das Personal sehen aus wie Statisten, die man eingesetzt hat, um eine sogenannte anrüchige Atmosphäre zu schaffen. Da gibt es Reiche und Huren, Parasiten und Muskelprotze, kaukasische Banditen und Ausländer auf Sauftour. Man betrinkt sich, begrapscht sich, und vor allem lässt man enorm viel Geld springen. Eduard versucht sich zu sagen, dass es solche Orte wohl schon immer gegeben hat und nur er als abgebrannter Dichter bislang keinen Zutritt dazu gehabt habe – doch nein, es gibt noch etwas anderes, das seine Begleiter auf dieser Kneipentour schwer begeistert und ihn zutiefst anwidert.
    Er braucht eine gewisse Zeit, um sich dessen bewusst zu werden: Dieses andere Etwas, das ihn bereits beim Betreten des Lokals verblüffte, ist der Blick des auf dem Gehsteig postierten Polizisten. Es handelt sich nicht um einen vom Restaurant engagierten Wächter, sondern um einen echten Bullen, das heißt einen Repräsentanten des Staates. Selbst ein Staatsrepräsentant unte ren Ranges war früher einer, vor dem man Respekt hatte. Der Angst einflößte. Dieser Bulle am Eingang flößt kein bisschen Angst ein, und er weiß es. Die Gäste gehen an ihm vorbei, ohne ihn wahrzunehmen. Wenn sie vor etwas Angst haben, dann jedenfalls nicht mehr vor ihm. Sie sind es, die das Geld und die Macht besitzen; der arme Typ in Uniform steht jetzt in ihren Diensten.
    Neben den drei Gästen aus dem Westen gibt es rund um Semjonow noch ein Dutzend junger Männer, deren Funktionen innerhalb der Gruppe nicht deutlich werden, die aber in jedem Fall seine Vasallen sind. Eduard lehnt sie instinktiv ab. Er respektiert Semjonow wie er Jean-Edern Hallier respektiert, denn beide sind Bandenchefs, doch er verachtet ihre Gangs. Ihn, Eduard, kauft man nicht, ihn wird man nicht zähmen. Er ist ein Wegelagerer, der sich gern mit dem Chef von gleich zu gleich an den Tisch sitzt, wenn ihre Wege sich kreuzen, aber er mischt sich nicht unter das Gesocks seiner Diener, V-Männer und Handlanger. Sein Tischnachbar zum Beispiel: ein kleines Schlitzohr, der in Nachahmung seines Chefs ein weißes, weit offenstehendes Hemd unter einem schwarzen Anzug trägt und Eduard ermuntert, sich mit einer Schöpfkelle aus einer Schüssel Kaviar zu bedienen und dabei mit dem Auge zwinkernd sagt: »Mafia«. Arschloch, denkt Eduard, doch er knüpft ein Gespräch mit ihm an, und das Gespräch ist aufschlussreich. Von seinem eigenen Zynismus begeistert erklärt der nicht einmal dreißigjährige junge Mann, Mafias seien gut für die Demokratie und für den Markt, und für ihn liege es auf der Hand, dass man auf den Markt zusteuere, auf einen Kapitalismus wie im Westen, und nichts sei erstrebenswerter. Natürlich würde es am Anfang weniger der Schweiz ähneln als dem Wilden Westen. »Da wird’s krachen«, amüsiert sich der junge Mann, und während er mit den Lippen ta-ta-ta-ta formt, tut er so, als knalle er mit der Maschinenpistole eine Gruppe von Ausländern ab, die am Nebentisch tafelt. Einer davon dreht sich um, sein Gesicht hellt sich auf, und der Schütze und er grüßen sich wie alte Komplizen. » My friend «, sagt der junge Mann stolz: » American .«
    Der amerikanische Freund ist Journalist, der junge Mann arbeitet für den Sicherheitsdienst, den die Semjonow-Gruppe beschäftigt. Beide beginnen, komplette Szenen aus Scarface nachzuspielen, einem Film, den sie auswendig kennen. Eduard trinkt zu viel und torkelt zum Keller, wo er noch einmal vergeblich versucht, Nataschas Mutter zu erreichen. Am Toilettenausgang sitzt eine mürrische Klofrau, die er am liebsten in die Arme nehmen würde, eben weil sie so mürrisch und sowjetisch ist und nicht den Schlaumeiern ähnelt, die sich ein paar Meter über ihr die Bäuche voll schlagen, sondern den armen, ehrlichen Leuten, unter denen er aufgewachsen ist. Er versucht, mit der Klofrau zu reden und zu erfahren, was sie über das denkt, was im Land vor sich geht, aber wie der Fahrer des Minibusses verzieht sie das Gesicht nur noch mehr. Es ist furchtbar: Die einfachen Leute, mit denen er sich gern verbünden würde, wenden sich von ihm ab, und denen, die dazu bereit sind, würde er am liebsten die Fresse polieren. Er geht zum

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