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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Lee.«
    Die Schultern ihres Mantels waren mit Schnee bedeckt. Ihr Haar war durch und durch naß. Sie mußte die ganze Zeit über hier gestanden haben, während ich nach ihr gesucht hatte.
    »Ich hätte dich nicht hierherbringen sollen«, sagte ich. »Du erkältest dich und holst dir noch den Tod. Laß uns zum Auto zurückgehen.«
    »Ist er je wieder zurückgekommen?«
    »Ich kenne ein tolles Lokal gleich hinter der Brücke. Großer Kamin. Großartiger Kaffee. Wir können uns dort über Lee unterhalten.« Ich nahm sie beim Arm. »Ich werde dir alles sagen, was du wissen willst.«
    Es war ihr nicht anzumerken, daß sie meine Hand auf ihrem Arm überhaupt spürte. »Ist er nach dem Krieg hierher zurückgekommen?«
    »Nein«, sagte ich. »Er hat es nur einmal gesehen. Aus dem Fenster eines Zugabteils.«
    Sie nickte, als hätte ich etwas bestätigt, das sie schon lange wußte.
    »Laß uns wenigstens auf die Veranda der Villa Arlington gehen. Dort sind wir aus dem Wind heraus.«
    »Er war ein guter Mensch, nicht wahr? Es heißt doch immer, er sei ein guter Mensch gewesen, oder?«
    Ich wollte sie aus dem Schnee und aus ihrem feuchten Mantel und den patschnassen Schuhen heraushaben und sie vor ein Feuer setzen, damit sie keine Lungenentzündung bekam, aber sie hätte sich nicht von der Stelle gerührt, ehe ich nicht ihre Fragen beantwortet hatte. Ich ließ ihren Arm los. »Er war ein guter Mensch, vermute ich, wenn man jemanden als gut bezeichnen kann, der das Abschlachten von zweihundertfünfzigtausend Männern zu verantworten hat«, sagte ich. »Er war tapfer, würdevoll, nachsichtig, freundlich zu Kindern und Tieren. Jedermann mochte ihn, sogar Lincoln.«
    »Seine Soldaten liebten ihn«, sagte Annie. Sie hatte ihre Handschuhe ausgezogen und wrang sie in den Händen.
    »Ja«, sagte ich. »Einmal kam bei Cold Harbour ein Trupp seiner Soldaten vorbei. Sie sahen ihn, wie er sich unter einem Baum ausruhte, und gaben die Losung weiter, ›Marse Robert‹ sei eingeschlafen. Die ganze Kolonne passierte ihn quasi auf Zehenspitzen, damit er nicht aufwachte. Seine Soldaten liebten ihn. Sein Pferd liebte ihn.«
    »Zweihundertfünfzigtausend Männer«, sagte sie. »Wenn er ein guter Mensch war, wie hielt er es dann aus? All diese jungen Burschen. Da ist er bestimmt niemals drüber weggekommen, nicht wahr?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Vielleicht kann er deshalb nicht schlafen. Wegen all dieser Jungen.« Sie wandte sich mir zu und sah mich an. »Das ist das Haus aus meinem Traum. Im Traum sieht es wie mein Haus aus, aber es ist nicht mein Haus.
    Es ist dieses Haus. Und es ist nicht mein Traum.« Sie wandte sich ab und schaute wieder zum Kennedy Memorial am Fuß des Hügels hinab. Die Ewige Flamme, die im Kreis der geschwärzten Steine brannte, sah aus wie das Lagerfeuer von Soldaten. »Erzähl mir von der Katze.«
    »Hattest du jemals eine Katze? Als Kind?« fragte ich.
    »Nein«, sagte sie. »Du hältst mich für verrückt, nicht wahr?« sagte sie. Sie hatte beide Handschuhe fallengelassen. Ihre Hände, die flach auf der niedrigen rauhen Mauer lagen, waren rot und naß.
    »Nein.«
    »Richard meint, mir wäre etwas zugestoßen, als ich klein war, etwas, an das ich mich nicht mehr erinnere und das mich diese Träume träumen läßt, und der Apfelbaum und die Leichen und die Katze, das wären alles Symbole für das, was damals geschah. Er sagt, das unbeschriebene Papier am Ärmel des Soldaten sei ein Symbol für die Botschaft, die mir mein Unterbewußtsein zu übermitteln versucht, nur hätte ich zuviel Angst, um sie zu lesen.«
    »Robert E. Lees Tochter hatte einen Kater, der Tom Tita hieß«, sagte ich. »Einen gelben Tigerkater. Er wurde versehentlich zurückgelassen, als die Lees Arlington verließen. Als eine Cousine, Markie Williams, nach Arlington fuhr, um ein paar Sachen zu holen und sie den Lees zu schicken, fand sie die Katze. Sie war auf dem Speicher eingeschlossen und hatte sich von Mäusen ernährt.«
    »Was passierte mit ihr?«
    Ich bückte mich und hob ihre Handschuhe auf. »Das weiß ich nicht.« Ich reichte sie ihr. »Sie berichtet nichts darüber, daß sie sie mitgenommen hätte. Ich nehme an, sie hat sie bei den Unionssoldaten gelassen, die Arlington besetzt hatten. Ich weiß nicht, was mit ihr geschah.«
    »Mir ist kalt«, sagte sie und ging vor mir her zurück zum Weg und hinauf zum Haus.
    Die Veranda bot wenig Schutz. Der Schnee begann sich auf den hölzernen Treppenstufen zu häufen und hatte auf den sechseckigen

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