Linda Lael Miller
Alice«, platzte die Stimme eines Mannes heraus, sobald Jonathan
die Tür öffnete. »Sie kann nicht richtig atmen, Doc!«
»Ich hole
nur meine Tasche.« Kurz darauf fuhr Jonathan in dem Wagen des Mannes rumpelnd
in die Nacht hinaus.
Elisabeth
blieb auf der Treppe, obwohl es kalt war und ihr erschöpfter Körper nach Schlaf
verlangte. Sie saß auch noch da, eingehüllt in den Hausmantel, als Jonathan
mehrere Stunden später zurückkam.
Er
entzündete die Lampe in der Diele und wollte nach oben, blieb jedoch stehen,
als er Elisabeth sah.
»Was ist
passiert?« fragte sie. »Ist das kleine Mädchen ...?«
Jonathan
schüttelte seufzend den Kopf. »Diphtherie.«
Ihre
Kenntnisse über altmodische Krankheiten waren begrenzt, aber sie hatte genug
gehört und gelesen, um zu wissen, daß diese tödlich war. Und sehr anstekkend. »Kann
ich irgendwie helfen?«
Er kam zu
ihr. »Sei einfach Lizzie«, bat er heiser. Sie kehrten in ihre getrennten Betten
zurück, aber es dauerte nicht lange, bis wieder jemand den Doktor zu einem
kranken Kind holte. In der Morgendämmerung blieb Elisabeth schließlich wach.
Bei einer Tasse Kaffee überlegte sie, welches Loch ihr Verschwinden in dieser
anderen Welt hinterlassen würde. Es würde vermutlich eine oder zwei
Lokalmeldungen geben, aber nach einer Weile würde sie zu einer namenlosen Zahl
in der Statistik werden, zu einer Person, die die Polizei nicht finden konnte.
Ian würde
eine Augenbraue hochziehen, versichern, was für ein Jammer das war, und seinen
Anwalt anrufen, um herauszufinden, ob er und seine neue Frau irgendeinen
Anspruch auf Elisabeths Besitztümer hatten.
Ihr Vater
würde leiden, aber er hatte seinen Beruf und Traci und das Baby. Auf lange
Sicht ging es ihm sicher gut.
Janet und
andere Freunde in Seattle würden wahrscheinlich eine ganze Weile in Aufruhr
sein, der Polizei zusetzen und unter sich spekulieren, aber jeder von ihnen
hatte sein eigenes Leben. Irgendwann würde es so sein, als wäre ihre Freundin
Elisabeth gestorben.
Mit Rue
verhielt sich das natürlich ganz anders. Sie würde von ihren Reisen heimkommen,
den Brief lesen, den Elisabeth ihr über ihre erste Erfahrung mit der Schwelle
geschrieben hatte, und in der nächsten Maschine nach Seattle sitzen. Eine
Stunde nach der Landung würde sie hier im Haus sein, nach einer Spur ihrer
Kusine suchen, jeden Anhaltspunkt verfolgen und die Polizei dazu bringen, sich
zu wünschen, niemals von Elisabeth McCartney gehört zu haben.
So nahe,
dachte Elisabeth und stellte sich Rue in diesen Räumen vor, und doch so weit
weg.
Trista kam
die Treppe herunter, kletterte Elisabeth auf den Schoß. »Ist Papa fort?« fragte
sie gähnend.
Elisabeth
nickte und stellte erschrocken fest, daß Tristas Stirn sich heiß anfühlte.
Himmel, nein! »Trista, fühlst du dich gut?«
»Mein Hals
ist wund«, klagte sie, »und meine Brust tut weh.«
Tränen der
Angst stiegen Elisabeth in die Augen, aber sie drängte sie zurück. »Du gehst
heute nicht in die Schule. Ich
mache dir ein bequemes Bett beim Herd, und wir lesen Geschichten, und ich spiele
dir etwas auf dem Klavier vor.«
Als
Jonathan durch die Hintertür hohläugig und todmüde hereinkam, lag seine
Tochter auf der Couch, die Elisabeth an den Herd geschoben hatte, und hörte zu,
wie Elisabeth aus »Gullivers Reisen« vorlas. Sein Gesichtsausdruck, als er die
logische Schlußfolgerung zog, war schrecklich anzusehen.
Er kam
sofort zu seiner Tochter, befühlte ihr warmes Gesicht, untersuchte ihre Ohren
und den Hals. über Tristas Kopf hinweg traf sich sein Blick mit dem Elisabeths,
und sie wußte, daß es vielleicht keine Rolle mehr spielte, ob es in der dritten
Juniwoche brannte. Zumindest nicht für dieses kleine Mädchen.
Sie gingen
in Jonathans Arbeitszimmer.
»Diphtherie?«
flüsterte Elisabeth.
Er stand an
einem der Fenster und starrte an dem Spitzenvorhang vorbei in den neuen, hellen
Tag und schüttelte den Kopf. »Es ist ein Virus, den ich noch nie gesehen habe,
und es scheint sich um eine Epidemie zu handeln.«
»Können wir
etwas tun?« Er zuckte niedergeschlagen mit den Schultern. »Chinin verabreichen,
Flüssigkeit einflößen ...«
Sie trat zu
ihm, angezogen von seinem Schmerz, den sie lindern wollte, und legte ihre Hände
auf seine angespannten Schultern. »Und dann?«
»Und dann
sterben sie wahrscheinlich«, antwortete er und ging schnell weg.
Elisabeth ließ
ihre Hände sinken.
»Jon, das
Penizillin ... es wäre nicht genug für alle Kinder, aber
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