Linda Lael Miller
einem belebten kleinen Dorf am Stadtrand
Londons. Nach ihrer Ankunft, während Melissande durch die Räume schritt und
sich im stillen freute, endlich wieder daheim zu sein, dachte Christian über
das nach, worauf er sich eingelassen hatte, als er ausgerechnet jener Frau die
Ehe anbot, die allem Anschein nach diejenige gewesen war, die ihn in die Hölle
verbannt hatte. Was mochte ihn nur dazu bewogen haben, etwas derart Unbedachtes
zu tun?
Der
Liebesakt mit Melissande ganz gewiß nicht, obwohl Gott und die Engel wußten,
daß die körperliche Liebe mit Melissande Bradgate – Gott segne ihr treuloses
kleines Herz – sich als das schönste Erlebnis nach seiner Wiederauferstehung
aus der Hölle erwiesen hatte.
Er hatte
sie einst geliebt, gewiß, aber er hatte sich verändert seither, war härter
geworden, ihr gegenüber und der gesamten Menschheit. Nein, er hatte Melissande
besessen, weil er den sinnlichen Trost, den sie ihm bot, benötigte, ja sogar
ersehnte. Und er vermutete, daß er ihr auch die Ehe angeboten hatte, weil ihm
klar war, daß es eine Menge Gold erfordern würde, um die Schlösser und Lehen,
die James hatte verfallen lassen, wieder instand zu setzen.
Ungeduldig
fuhr Christian sich mit der gesunden Hand durchs Haar. Vor langer Zeit, als er
sich diesen Luxus noch erlauben konnte, hatte Christian sich edleren Prinzipien
verschrieben. Heute wußte er nur zu gut, daß nur Narren aus Liebe heirateten,
und dennoch belastete sie ihn, diese harte Entscheidung, die er so kaltblütig
getroffen hatte.
Er seufzte.
Er würde gut zu Melissande sein, auf seine Weise. Er würde Kinder mit ihr
zeugen – Töchter, hoffte er, ebenso wie Söhne. Sobald das Kinderzimmer jedoch
voll war, würde er sich eine Mätresse nehmen, zwei vielleicht sogar, und
nie wieder mit seiner Gemahlin das Lager teilen. Ein Herz konnte beherrscht
werden, trainiert und ausgebildet wie ein Schwert oder ein gutes Pferd.
Niemand
wußte das besser als er selbst.
»Warum tut
Ihr das?« unterbrach eine Männerstimme seine Überlegungen.
Christian
wandte sich vom Fenster ab, wo er gestanden und auf den verwilderten Park von
Melissandes Elternhaus
hinabgeschaut hatte, und sah, daß Henry Renford eingetreten war. Er war ihnen
also offenbar hierher gefolgt, anstatt pünktlich und in Würde seinen Abschied
von der Bradgate Company zu nehmen.
Was
eigentlich nicht weiter überraschend war.
»Ich hoffe,
Ihr seid nicht gekommen, um zu betteln«, sagte Christian kühl. »Das wäre
äußerst peinlich bei einem Manne Eures Stands.«
Renford
errötete. Er trug ein Cape über demselben Wams und den gleichen Hosen, die er
getragen hatte, als Melissande
und Christian ihm ihren verhängnisvollen Besuch in London abgestattet hatten,
und sein Hut, den eine lange Feder zierte, saß ein bißchen schief auf seinem
Kopf. »Ihr schmeichelt Euch, Ihr armer, besitzloser Galeerensklave ...«
Christian
unterdrückte das jähe Bedürfnis, diesen Mann zu erwürgen, und lehnte sich an
die Wand, die Arme lässig
vor der Brust verschränkt. »Ihr wart also daran beteiligt, wie ich schon
vermutet hatte. Zusammen mit Melissandes Vater und den anderen.«
»Den
anderen?« Renford stieß ein verächtliches Gelächter aus. »Mag sein, daß ich in
das eine oder andere Geheimnis
eingeweiht war. Aber ich versichere Euch, Lord Wellingsley, daß Euer verstorbener
Bruder und sein Diener Queech die Anstifter des Ganzen waren.«
»Ich sollte
Euch töten«, sagte Christian in ruhigem Ton, weil er wußte, daß das
beängstigender und entnervender für Renford war, als ihn anzubrüllen.
Tatsächlich
trat er einen Schritt zurück. »Ihr könnt nichts von alledem beweisen.«
Christian
betrachtete seine Fingernägel. »Ich glaube schon, daß ich das könnte«,
entgegnete er nachdenklich. Er musterte den Mann durch schmale Augen, beschloß
jedoch, die Angelegenheit nicht weiter zu verfolgen. Noch nicht – obwohl er im
stillen längst zu dem Schluß gekommen war, daß es jemanden geben mußte, der
die Wahrheit kannte, und der vielleicht zu überreden war, sie zu erzählen. Der
Mensch, der Christian nach seiner letzten Tracht Prügel nach St. Bede's
getragen hatte.
»Bradgate
glaubte, Ihr hättet ihm Hörner aufgesetzt, mit der Dame Eleanora.« Renfords
Gesicht war wieder rot angelaufen, obwohl er sich nach außen hin gelassen gab.
Christian
spürte, wie ein Muskel an seiner Wange zuckte, und biß die Zähne zusammen, um
es zu unterdrücken. Eleanora hatte ihn als Geliebten begehrt, das
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