Linda Lael Miller
einnehmenden Wesens und
ihrer süßen, feurigen Leidenschaft im Grunde ihres Herzens eine Schlange war.
Melissande erwachte rechtzeitig zur
Morgenandacht, obwohl sie die Abtei inzwischen weit hinter sich gelassen hatte.
Christian lag neben, nein, halb auf ihr in der Hängematte, ein
Bein um ihre Beine geschlungen und einen Arm um ihre Schultern. Sein Atem ging
ruhig und tief, rhythmisch und entspannt.
Sie stieß
ihn an. »Christian?«
»Hm«,
murmelte er, und seine dichten Wimpern flatterten, als er einen Spalt die
Augen öffnete. »Was ist?«
»Die Kutsche wird bald abfahren.«
»Die
Kutsche fährt erst in fünf Stunden ab«, entgegnete er nicht allzu freundlich.
»Schlaf weiter, Melissande.«
»Ich möchte reden.«
»Na
wunderbar. Dann rede mit dir selbst. Aber leise bitte.«
»Du hast
mich heute nacht geliebt«, sagte sie leise. »Oder war es nur ... Hast du dich
nur erleichtert, wie du es bei einer Tavernendirne oder irgendeinem
armen Dienstmädchen getan hättest?«
»Es ist
nicht meine Art, mich bei > armen Dienstmädchen < zu erleichtern«, erwiderte
er. »Ich habe dich genommen, weil ich dich begehrte.«
Sie
versteifte sich. »Und das genügte deiner Ansicht nach?«
»Leg mir
keine Worte in den Mund. Ich habe keinen Laut des Widerspruchs von dir gehört,
wenn ich so rüde sein darf, dich daran zu erinnern.«
»Und wenn
ich dich nun abgewiesen hätte?«
»Dann hätte
ich nicht darauf beharrt. Aber darf ich noch einmal wiederholen, daß du mich nicht abgewiesen hast?«
»Was wirst
du tun, wenn wir in London eintreffen? Wirst du mich dort verlassen?«
Christian
seufzte. »Ich habe einige persönliche Angelegenheiten zu erledigen. Die
Wellingsley-Besitztümer gehören mir, und ich will sie haben.«
»Du wirst
heiraten und mindestens einen Erben zeugen wollen.«
»Ja.
Allerdings.«
Melissande
schwieg einen Augenblick. »Du würdest jemanden heiraten, den du nicht liebst?«
»Ich glaube
nicht mehr an die Liebe«, entgegnete Christian kalt. »Und alles, was ich weiß
über die Frau, die ich einmal heiraten werde, ist, daß sie in keinster Weise so
wie du sein wird, Melissande.«
11. Kapitel
Der Rest
der Reise, drei
Tage und drei Nächte, verlief mehr oder weniger nach dem gleichen Muster wie
jener erste Abend auf der Straße. Jede Nacht teilten Christian und Melissande
sich ein Bett in irgendeiner fragwürdigen Taverne voller Strauchdiebe und
Wüstlinge, und jede Nacht schliefen sie miteinander.
Melissande
machte sich keine Illusionen, daß Christians Gefühle ihr gegenüber sich
geändert hatten, obwohl er ihr stets mit größter Zärtlichkeit begegnete, wenn
sie allein waren. Sie vermutete, daß er sie begehrte, weil er ausgehungert war
nach der Berührung einer Frau. Ihr Grund, sich ihm hinzugeben, war ähnlich
simpel: Sie wußte, daß sie nie wieder lieben würde, und versuchte, sich
Erinnerungen zu schaffen, von denen sie für den Rest ihres Lebens zehren
konnte.
Am vierten
Tag der Reise erreichten Melissande und Christian endlich die geschäftige Stadt
London, die sich am Ufer der Themse erstreckte und deren imponierender weißer
Tower majestätisch in den Himmel aufragte.
London war
eine laute, schmutzige Stadt, und doch verspürte Melissande freudige Erregung,
als sie sie durch das Kutschenfenster betrachtete. Wenn sie Christian schon
nicht haben konnte, so blieb ihr doch noch immer ihr Geschäft, und sie würde
ihre ganze Kraft und Energie einsetzen, um die Firma auf anständige, gerechte
Weise zum Erfolg zu führen.
Vor einer
Taverne in Stadtmitte stiegen sie aus der unsauberen Kutsche aus und mieteten
ein anderes Gefährt,
einen offenen Wagen, der von zwei grauen Mauleseln gezogen wurde, um sich
darin zu den Bürogebäuden der Bradgate Company fahren zu lassen.
Zumindest
fuhr Melissande – denn Christian bestand darauf, neben dem Wagen herzuhumpeln
und sich seinen Weg zu
bahnen zwischen Haufen von Pferdekot, Pfützen und anderem Unrat. Melissande
dachte, daß er der eigensinnigste, stolzeste Mann war, den sie kannte, und dennoch
liebte sie ihn wider jegliche Vernunft und über alle Maßen.
Zu
behaupten, die Insassen des zweistöckigen Holzgebäudes in der Carstairs Street
seien überrascht gewesen, Melissande
zu sehen – ganz zu schweigen von Christian Lithwell –
wäre maßlos untertrieben. Ein augenblickliches, spannungsgeladenes Schweigen
breitete sich aus, als die beiden
Neuankömmlinge den großen Raum mit den hohen Stehpulten betraten, an denen die
Schriftführer und
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