Linda Lael Miller
wischte Katherine
endlich die Feder ab und schraubte den Deckel wieder auf das Tintenfäßchen.
Ohne
abzuwarten, bis die Seiten getrocknet waren, verglich sie ihre eigene Schrift
mit jener in den Tagebüchern. Die Buchstaben auf den losen Blättern waren viel
schmaler, sauberer und bedeutend kleiner.
Sie hatte
also doch etwas mehr aus ihrem früheren Leben zurückbehalten als bloß ein
Gewirr undeutlicher Erinnerungen. Sie hatte ihre eigene Schrift behalten.
Die
Erkenntnis raubte Katherine im ersten Augenblick den Atem und erschütterte sie
so sehr, daß sie nicht wagte, aufzustehen, weil sie befürchtete, daß ihre
zitternden Knie unter ihr nachgeben würden.
Einen
Moment lang legte sie den Kopf auf die Schreibtischplatte und atmete tief
durch, um die Beherrschung wiederzugewinnen. Jene andere Katherine lag jetzt
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in jenem Krankenhausbett im
Seattle des zwanzigsten Jahrhunderts – hundert
Jahre später also –, oder vielleicht war sie sogar schon längst gestorben ...
Katherine
verspürte Mitleid mit Gavins Frau, aber sie begehrte auch ihren Körper, ihren
Mann und ihr Leben, obwohl die eigentliche, ursprüngliche Besitzerin all dessen
ein wahrhaft unfaßbares Chaos hinter sich zurückgelassen hatte.
Katherine
begann zu zittern und fröstelte, obwohl es warm im Zimmer war. Vielleicht würde
der ganze Vorgang sich ja irgendwann wieder umkehren ... Vielleicht würde sie
Christopher, Gavin und dieser eleganten alten Welt, die sie so zu schätzen
gelernt hatte, wieder entrissen werden ...
Nachdem sie
lange reglos so verharrt hatte, atmete Katherine tief durch und zwang sich, den
Kopf zu heben und sich
aufzurichten. Sie würde alles so nehmen, wie es kam, beschloß sie, und sich
erst mit zukünftigen Problemen auseinandersetzen, wenn sie auf sie zukamen.
Bis dahin jedoch würde sie alles tun, um einen Weg zu finden, Gavins Liebe zu
gewinnen.
Während
jener ersten Woche in dem Sommerhaus auf der Insel las Katherine die Tagebücher
jener anderen Frau und ihre
Briefe immer wieder von neuem durch und studierte
aufmerksam die Fotografien, die ebenfalls in dem Hutkarton gelegen hatten. Sie
probierte auch alle Sommerkleider
an, die sich in ihrem Gepäck befunden hatten, und
betrachtete sich oft stundenlang sehr nachdenklich im Spiegel. In der zweiten
Woche kam endlich ein Brief von Gavin.
Katherine war enttäuscht, wenn auch nicht überrascht, als sie feststellte, daß
er an Marianne adressiert war. Obwohl er Grüße an sie enthielt und Gavin sich
auch nach Christopher erkundigte, war es fast, als ob Katherine gar nicht
existieren würde.
Gegen Ende
der dritten Woche hatte sie begonnen, zu Pferd die ganze Insel zu erkunden.
Aber obwohl sie diese langen
Ausritte sehr genoß, war ihr durchaus bewußt, daß sie nichts weiter waren als
ein Versuch, vor ihren eigenen Zweifeln und verletzten Gefühlen davonzulaufen.
Nach einem
Monat teilte Marianne ihr mit, daß sie beabsichtigte, eine große Gesellschaft
im Garten des Hauses zu
veranstalten. Sämtliche Bekannte und Freunde der Winslows, ganz gleich, ob sie
auf der Insel lebten oder in der Stadt, sollten eine Einladung zu diesem
Gartenfest erhalten.
Katherine
sah ihre Garderobe durch, Kleidungsstück um Kleidungsstück, und hoffte
inständig, daß Gavin zu dem festlichen Ereignis auf die Insel kommen würde.
Anfang
August, fünf Wochen nachdem Marianne, Katherine und Christopher auf die Insel
gekommen waren, um
dort den Sommer zu verbringen, fand die Gartenparty statt. Gavin schickte aus
Seattle eine Nachricht, in der er sich mit knappen Worten für sein
Nichterscheinen entschuldigte und es damit begründete, daß er im Augenblick zu
sehr mit Arbeit überlastet sei.
Katherine
nahm natürlich an dem gesellschaftlichen Ereignis teil, obwohl sie viel lieber
in ihrem Zimmer geblieben
wäre. Sie lächelte, obwohl sie fast nicht atmen konnte,
weil das Herz ihr in der Kehle saß, und plauderte angeregt mit Mariannes
Gästen. Sie hatte für jeden ein freundliches
Wort bereit, achtete jedoch darauf, nichts zu tun, was ihr als unschicklich
hätte ausgelegt werden können, weil sie hoffte, wenigstens ein bißchen von dem
Schaden wiedergutzumachen, den jene andere Katherine angerichtet hatte.
Nachdem der
letzte Gast jedoch gegangen war, schloß Katherine sich in ihrem Zimmer ein und
weinte, weil Gavin nicht gekommen war.
An einem
heißen Tag Ende August, als Maria Freunde auf der anderen Seite der Insel
besuchte und Christopher
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