Linda Lael Miller
Theresa nach North Dakota schickst«,
brachte sie besorgt hervor.
»An
Schwierigkeiten bin ich gewöhnt. Genau genommen mag ich die Herausforderung.«
»Ich
brauchte etwas zu tun«, gestand sie.
Lincoln öffnete
eine Schreibtischschublade und fischte ein zweites Tintenfass und einen
Federhalter heraus. Beides reichte er ihr, zusammen mit einen Stapel Papier. »Schreib
deinem Bruder«, schlug er vor. »Erzähl ihm, dass du jetzt verheiratet bist und
dass ich ihm, wenn er nicht hierherkommt, bald einen Besuch abstatten werde.«
Die
Vorstellung, dass Clay und Lincoln sich gegenüberstehen würden, behagte ihr
zwar nicht, doch sie nahm Tinte, Füller und Papier entgegen und ging damit
zurück in die Küche. Tom und Joseph waren nicht da, Theresa, Gracie, Daisy und
Billy-Moses saßen im Kreis auf dem Boden und vergnügten sich mit einem
ramponierten Kartenspiel.
Sie setzte
sich an den Tisch, öffnete das Tintenfass und wartete auf die Inspiration.
Nach einer Viertelstunde hatte sie noch nicht mehr geschrieben als »Lieber Clay«.
Schließlich hörte sie aus schierer Frustration auf, nach passenden Worten zu
suchen, tauchte den Federhalter in die Tinte und begann.
Da du
dir seit Langem wünschst, mich gut und sicher verheiratet zu sehen, freue ich
mich, dir mitteilen zu können, dass ich gestern, am 22. Dezember, mit Mr Lincoln
Creed aus Stillwater Springs den Bund der Ehe geschlossen habe ...
Sie fuhr fort, Lincoln, Gracie, das
Haus und alles, was sie bisher von der Ranch gesehen hatte, zu beschreiben,
wünschte ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein erfolgreiches neues Jahr. Du
meine Güte, bald ist schon 1911! Wo ist nur die Zeit geblieben?
Als sie
fertig war, hatte sie drei Seiten geschrieben. Sie schloss mit »Ergebenst,
Juliana Mitchell Creed«, wartete, bis die Tinte getrocknet war und faltete den
Brief sorgfältig zusammen. Ihre Unruhe war in Erleichterung übergegangen. Sie
konnte nicht voraussehen, wie Clay auf das Schreiben reagieren würde, wenn
überhaupt. Allerdings änderte das nichts an ihrem Gefühl, einen Gipfel
erklommen und eine neue Form von Freiheit gewonnen zu haben.
Der Rest
des Tages verlief ruhig.
Die
jüngeren Kinder hielten ohne großes Theater ihren Mittagsschlaf.
Theresa las
in einem Schaukelstuhl vor dem Ofen ein Buch.
Irgendwann
wurde Juliana wieder unruhig, und da sie nicht erneut zu Lincoln ins Wohnzimmer
gehen wollte, schlüpfte sie in den geborgten Mantel ihrer Schwiegermutter, lief
zu der Hütte der Gainers und klopfte leise. Ben öffnete die Tür und flüsterte,
dass Rose-of-Sharon und das Baby schliefen. Juliana versuchte, sich ihre
Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Lächelnd versprach sie, später noch
einmal wiederzukommen.
Sie ging in
den Stall und sprach mit der Kuh und den Pferden, anschließend schlich sie sich
in den Holzschuppen, um einen Blick in die Säcke mit den Geschenken zu werfen,
die Tom hier versteckt hatte, bekam jedoch sofort ein schlechtes Gewissen und
ging wieder.
Obwohl sie
inzwischen vollkommen durchgefroren war, wollte sie nicht ins Haus zurück. Also
steuerte sie auf die Obstplantage zu. Die Bäume waren knorrig mit nackten
Ästen. Juliana blieb stehen, um die Hand auf einen dicken Baumstamm zu legen.
Im nächsten Sommer würde er Früchte tragen, und vielleicht konnte Tom ihr bis
dahin das Einkochen beibringen.
Als sie aus
den Augenwinkeln einen Engel erblickte, glaubte sie zuerst, eine Halluzination
zu haben. Doch dann begriff sie, dass er auf einem kleinen Friedhof stand.
Der
Steinengel wachte über die letzte Ruhestätte von Bethany Allan Creed.
Juliana
wurde schwer ums Herz. Beth. Lincolns erste Frau. Gracies Mutter. Vorsichtig,
um ihr Kleid nicht zu beschmutzen, ging sie in die Hocke und wischte etwas
Schnee von dem Grab.
»Ich werde sehr
gut auf die kleine Gracie aufpassen«, hörte sie sich sagen. »Sie ist so klug
und so hübsch und so lieb. Ich war schon in der ersten Sekunde ganz verzaubert.«
Ein Windhauch, weder kalt noch warm, fuhr in Julianas Haar. »Ich verspreche
dir etwas, Beth, hier und jetzt. Gracie wird dich nicht vergessen, wird nie
vergessen, dass du ihre richtige Mutter bist.«
Hinter ihr
knackte ein Zweig.
Erschrocken
sprang Juliana auf.
Lincoln
stand ein paar Schritte entfernt. Er trug seinen Hut und den langen schwarzen
Mantel. Aus dieser Entfernung konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht
erkennen.
Als ob sie
bei etwas Verbotenem ertappt worden wäre, konnte sie sich weder rühren noch
etwas
Weitere Kostenlose Bücher