Linda Lael Miller
hätte sie nicht über sich gebracht.
Nach einem
letzten Blick in den Spiegel verließ Annabel das Zimmer mit dem großen, leeren
Bett und den unzähligen süßen und bitteren Erinnerun gen, trat auf den
Korridor hinaus und schritt mit einstudierter Anmut die breite Treppe
hinunter.
Charlie
stand unten in der Halle und sah sehr komisch aus, als er seine Arme reckte und
mit einem Staubwedel über einen großen Kleiderständer fuhr. Sein Lächeln war
freundlich und aufrichtig. Warum konnte Gabriel nicht wenigstens auch so
höflich zu ihr sein? Und warum hatte er nicht woanders sein können als im
Samhill Saloon, nach einer Nacht in den Armen von Miss Julia Sermon, seiner
liebevollen Trösterin?
»Fühlen Sie
sich besser, Mrs. McKeige?« wollte Charlie wissen.
Annabel
strich über ihr Haar, obwohl sie wußte, daß es perfekt frisiert war, denn sie
hatte sich große Mühe damit gegeben. »Sehr viel besser, danke.«
Charlie
schwenkte weiter seinen Staubwedel und zog ihn nun über den langen, schmalen
Marmortisch, auf dem Gabriel immer seinen Hut ablegte, wenn er das Haus betrat.
»Draußen auf der Koppel ist jemand, den Sie sicher gerne sehen wollen«,
bemerkte Charlie augenzwinkernd.
Eine
prickelnde Spannung erfaßte sie. Gabriel? Vielleicht hatte er seine Meinung in
der Zwischenzeit geändert und eingesehen, wie unvernünftig seine Einstellung zu
ihrer Scheidung war. Komisch, aber der Gedanke stimmte sie fast ein wenig
traurig ...
»Nicholas
ist aus den Bergen zurück«, sagte Charlie sanft, und Annabel fiel wieder ein,
daß Charlie die lästige Eigenschaft besaß, die Gedanken anderer zu erraten.
»Nicholas!«
rief sie erfreut. Sie hatte nicht damit gerechnet, ihn so schnell zu sehen, da
er bei ihrer Ankunft nicht daheim gewesen war, und war überglücklich,
daß das Wiedersehen, das sie so herbeigesehnt und in Gedanken immer und immer
wieder durchgespielt hatte, nun dicht bevorstand.
»Nehmen Sie
Ihren Sonnenschirm mit«, riet Charlie, praktisch wie immer. »Es ist heiß
draußen.«
Annabel war
viel zu begierig, Nicholas zu sehen, um sich damit aufzuhalten, ins
Schlafzimmer zu gehen und ihren Schirm zu holen. Sie nickte Charlie jedoch
gehorsam zu und eilte aus dem Haus und über die Veranda. Ihre Hunde, die treu
im Schatten des Hibiskusstrauches warteten, standen auf und trotteten ihr nach.
Mit einer
Hand ihre Röcke raffend, hastete Annabel über das Gras im Garten und vorbei an
einer Wäscheleine mit Männerkleidung, die in der warmen Sonne trocknete.
Als sie um
die Hausecke bog, sah sie in der Ferne die Koppel und die schlanke Gestalt
eines jungen Mannes, der an dem hohen Zaun lehnte und interessiert verfolgte,
wie einer der Rancharbeiter ein Pferd einritt.
Annabel
blieb stehen, weil plötzlich Angst sie beschlich. Als sie Nicholas das letzte
Mal gesehen hatte, war er ein aufsässiger kleiner Junge gewesen, ein Gabriel im
Miniaturformat, der ihr mit ernster Miene mitgeteilt hatte, daß er, wenn sie
ihn nicht nach Nevada zurückschickte, fortlaufen und selbst einen Weg finden
würde, zu seinem Daddy heimzukehren. Sie hatte nie bezweifelt, daß es ihm
vollkommen ernst damit gewesen war. Nicholas war nie wirklich ein Kind
gewesen, höchstens körperlich.
Nun war er
erwachsen und fast so groß wie Gabriel. Sein Haar hatte die gleiche Farbe wie
das seines Vaters, war aber länger und mit einem schmalen Lederriemen
im Nacken zusammengebunden. Er trug schwarze Hosen, Stiefel und ein weites
Hemd, aber keinen Hut.
Annabels
Herz klopfte vor Freude und einer schrecklichen Besorgnis. Trotz der Briefe und
ein oder zwei Fotografien, die sie und Nicholas im Laufe der Jahre ausgetauscht
hatten, kannte sie ihn nicht gut genug, um zu wissen, wie er auf ihren Anblick
reagieren würde. Sie wußte nicht, wie er sie empfangen würde, denn obwohl
seine Briefe höflich und zuvorkommend gewesen waren, hatte er ihr wenig oder
gar nichts über seine Gefühle mitgeteilt und all ihre Bemerkungen zur
Vergangenheit grundsätzlich ignoriert. Nicht eine einzige ihrer unzähligen
Erklärungen und Entschuldigungen hatte er je mit einer Antwort gewürdigt.
Er hatte
ihr von Hunden und Pferden geschrieben, von Jagdausflügen und Rinderauftrieben
und ab und zu auch etwas über seinen Vater und seine geliebte Tante Jessie. In
den letzten Jahren hatte er verschiedene junge Frauen erwähnt, wenn auch stets
mit einer Nachsicht, über die sie lächeln mußte.
Als spürte
er ihre Gegenwart, drehte Nicholas sich zu ihr um.
Annabel
verhielt
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