Linda Lael Miller
trübselig.
»Was hat
sie den weiten Weg hierhergebracht? Ihrem letzten Brief zufolge war sie in
England und vergnügte sich mit Fuchsjagd und dergleichen.«
Gabes
Gesichtszüge verhärteten sich. »Frag sie selbst«, erwiderte er kurz. Nachdem er
eine Weile nachdenklich in seinen Kaffee gestarrt hatte, hob er den Kopf und
schaute Nicholas an. »Annabel kann es kaum erwarten, dich zu sehen, und sie ist
einen weiten Weg gekommen. Sei nett zu ihr, sonst kriegst du es mit mir zu
tun. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?«
Nicholas
unterdrückte eine ärgerliche Erwiderung, weil Gabe noch immer glaubte, ihm
sagen zu müssen, wie er seine Mutter zu behandeln hatte; immerhin war es erst
zehn Uhr morgens, und sein alter Herr sah aus, als hätte er bereits das Unglück
eines ganzen Tages erlebt. »Annabel und ich haben unsere Probleme schon vor
langer Zeit bereinigt«, sagte er, obwohl er ihr in Wahrheit immer noch verübelte,
daß sie ihn vor all diesen Jahren von allen, die er liebte, fortgeschleppt
hatte. Die Erinnerung daran schmerzte noch immer wie die Berührung eines heißen
Brandeisens.
Gabe erhob
sich etwas schwerfällig – trotz seiner Größe und seines – in Nicholas' Augen
zumindest – fortgeschrittenen Alters war er sehr elastisch und agil geblieben.
»Es sind viele Rinder in letzter Zeit abhanden gekommen«, sagte er und kehrte
Nicholas den Rücken zu,
während er seinen Becher abwusch. »Zu viele, als daß es Zufall sein könnte. Ich
möchte, daß du morgen mit einigen der anderen die Zäune abreitest, um zu
sehen, ob du irgendwo ein Loch findest.«
Nicholas
nickte, obwohl Gabe ihn gar nicht ansah. »Gehst du mit Annabel zum Picknick und
dem Ball abends?« fragte er.
Gabe
versteifte sich sichtlich, drehte sich aber immer noch nicht um. Nicholas fiel
ein, was Ben und Jimmy ihm erzählt hatten – daß es eine Szene gegeben hatte,
als Annabel am Morgen erschienen war. Eine öffentliche, über die die
Menschen hier noch lange reden würden. »Ich habe zu arbeiten«, sagte Gabe.
Nicholas
zuckte die Schultern. »Ich glaube nicht, daß es ihr an Tanzpartnern fehlen
wird«, bemerkte er leichthin. »Sie war eine schöne Frau, soweit ich mich
erinnere.«
Gabe
durchquerte den Raum mit einigen großen Schritten, ging hinaus und schlug die
Tür so heftig zu, daß Charlies Geschirr in den Regalen klapperte.
Nicholas
lächelte im stillen, als er seinen Teller und das Besteck zur Spüle brachte. Es
sah ganz so aus, als ob der vierte Juli in diesem Jahr erheblich länger dauern
würde als nur einen Tag, zumindest, was laute Explosionen anging.
Annabel erwachte sehr erfrischt nach ihrem
kurzen Nickerchen. Sie schlief sonst nie, solange es hell war, nicht einmal am
Ende einer langen Reise. Die vertrauten Geräusche arbeitender Männer auf der
Ranch waren wie eine seltsam behagliche Musik, und sie summte
vor sich hin, als sie sich ankleidete und ein hübsches blaues Kleid über ihr
Hemd und ihre Unterröcke zog.
Vor dem
bodenlangen Spiegel, der Gabriels schöner Mutter vor ihrer tragischen
Entführung gehört hatte, bürstete Annabel ihr Haar und flocht es zu einem
langen Zopf, den sie im Nacken lose zusammensteckte. Als sie sich zum Spiegel
vorbeugte, um den weichen Knoten festzustecken, hielt sie nach grauen Haaren
Ausschau, doch sie fand kein einziges.
Sie dachte
wieder an das Gespräch mit Gabriel an diesem Morgen – es war ihr eigentlich die
ganze Zeit nicht aus dem Sinn gegangen, denn es hatte sie selbst während ihres
kurzen Schlafs verfolgt – und die Erinnerung daran ließ sie erröten. Wieso
hatte es ihn eigentlich so überrascht, daß sie sich nach Liebe sehnte, daß sie
noch mehr Kinder haben wollte und ein richtiges Zuhause?
Annabel
drehte sich ein wenig und betrachtete ihr Profil im Spiegel. Sie hatte noch nie
zu falscher Bescheidenheit geneigt und wußte, daß sie eine schöne Frau war, die
sehr viel mehr zu bieten hatte als ein junges Mädchen. Sie war erst siebzehn gewesen,
als sie und Gabriel geheiratet hatten, und obwohl sie ihren Mann über alles
geliebt hatte, war sie in vielen Dingen bedauernswert naiv gewesen.
Zusammen
hatten sie die körperliche Liebe entdeckt, sie und Gabriel, und sich
gegenseitig viel gelehrt. Zusammen hatten sie die Ranch erbaut, auf einem Stück
Land, das Gabriel von seinem Vater geerbt hatte, der einer der ersten Siedler
dieser Gegend hier gewesen war. Aber am wichtigsten von allem war,
daß sie zusammen Nicholas geschaffen hatten.
Traurig
drehte Annabel
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