Linda Lael Miller
sehr
verärgert hätte, daß er so dachte.
»Ich habe
das etwas anders in Erinnerung«, widersprach Julia.
Gabe schloß
die Augen vor den Erinnerungen, die ihn bestürmten, aber das machte sie nur
noch eindringlicher in Farbe, Macht und Wirkung. Als ihr zweites Kind, ein
kleines Mädchen namens Susannah, plötzlich an einem Fieber gestorben war, war
Annabel in tiefe, bittere Melancholie verfallen. Er war natürlich auch traurig
gewesen – es hatte ihm das Herz gebrochen, die kleine Susannah zu verlieren.
Gott wußte, wie oft er zu irgendeinem stillen Ort gegangen
war, um dort seinen Tränen freien Lauf zu lassen.
Aber es gab
Momente, in denen sich ein Mensch zusammennehmen und sein Leben weiterführen
mußte.
Annabel war
nicht imstande gewesen, es zu tun; ihre Trauer war zu groß, zu überwältigend
gewesen.
Mit der
Zeit hatte ihre Beziehung sich so verschlechtert, daß sie eines Tages, als er
unterwegs gewesen war, um
Rinder aufzutreiben, ihre Sachen gepackt hatte und
abgereist war. Sie hatte Nicholas mitgenommen, der damals sieben Jahre alt
gewesen war, und war mit
dem Zug zur Ostküste zurückgekehrt. Außer einer kurzen Nachricht und der Harfe,
die Gabes Hochzeitsgeschenk für sie gewesen war, hatte sie nichts Persönliches
zurückgelassen.
Selbst
zwölf Jahre später noch schmerzte die Erinnerung daran, wie er nach Wochen
harter Arbeit heimgekehrt war und festgestellt hatte, daß seine Familie nicht
mehr da war.
Mit Daumen
und Zeigefinger massierte er seinen Nasenrücken.
»Gabe«,
sagte Julia leise. »Sieh mich an.«
Er wollte
es nicht. Oder konnte es nicht.
»Du liebst
sie«, meinte sie sanft. Es lag tiefes Mitgefühl in ihrer Stimme, in ihrer
Haltung. »Du hast sie immer geliebt und wirst sie immer lieben.«
»Nein«,
behauptete er. Das Wort schmerzte in seiner Kehle.
Julia
seufzte. »Geh heim, Gabriel McKeige«, befahl sie leise, und diesmal klang es
müde. »Was immer die braven
Leute hier in Parable auch denken mögen, ich werde keinen verheirateten Mann in
meinen Privaträumen empfangen, solange auch nur die geringste Chance
einer Versöhnung zwischen diesem Mann und seiner Frau besteht.«
Gabe stand
seufzend auf. »Ich sage es dir noch einmal, Julia«, knurrte er. »Annabel ist
nicht hergekommen, um sich mit mir zu versöhnen.«
»Wie du
meinst«, erwiderte Julia freundlich und betrachtete ihre Fingernägel. »Und
vergiß nicht deinen Hut, Mr. McKeige.«
Gleich nach dem Gespräch mit Gabe entließ
Annabel für den Rest des Tages Mr. Hilditch, ihren Kutscher, mit der strengen
Anweisung, darauf zu achten, daß er seine Uniform nicht beschmutzte. Dann,
nachdem sie höflich Captain Sommervales Angebot einer weiteren Eskorte
abgelehnt hatte, nahm sie selbst die Zügel ihres Phaetons und machte sich auf
den Weg zur Ranch. Die Hunde, Hercules und Champion, liefen gehorsam neben dem
Wagen.
Die zwei
Meilen lange Fahrt dauerte etwas über eine halbe Stunde, soweit sich Annabel
entsann. Kurz bevor das zweistöckige Haus in Sicht kam, zog sie ein
spitzenbesetztes Taschentuch aus ihrem Ärmel und tupfte hastig ihr Gesicht ab.
Niemand brauchte zu wissen, daß Gabriel McKeige sie – wieder einmal – zum
Weinen gebracht hatte.
Als Annabel
ziemlich sicher war, sämtliche Spuren ihrer Tränen entfernt zu haben, hob sie
das Kinn, straffte die schmalen Schultern und trieb die Pferde mit einer
Handbewegung zu einer schnelleren Gangart an. Mit etwas Glück würde sie ein
paar Minuten ungestört bleiben, um sich sowohl geistig als auch körperlich auf
die bevorstehende Auseinandersetzung einzustellen.
Beim
Anblick des großen Hauses bildete sich ein Klumpen in ihrer Kehle. Sie und
Gabriel waren hier einst so glücklich gewesen ...
Annabel
hielt den Wagen in der staubigen Einfahrt an, sicherte die Zügel und die
Bremse, und stieg mit der Würde und Anmut ab, die ihr seit frühester Jugend zur
zweiten Natur geworden war.
Die stille
Hoffnung, daß Nicholas lächelnd in der Tür erscheinen werde, um sie zu
begrüßen, erwies sich rasch als Illusion. Sie hatte ihrem Sohn nicht
geschrieben, daß sie kommen würde und was der Zweck ihres Besuches war. Sie
hatte einfach nicht den Mut dazu gehabt.
Nicholas
war neunzehn; sie war ein Jahr jünger gewesen, als er zur Welt gekommen war.
Was für ein hübscher, gesunder Säugling er gewesen war, stur und eigensinnig
vom Moment seiner Geburt an, als habe er damals schon sein Lebensziel gekannt
und vorgehabt, es auf der Stelle zu verfolgen. Sie hatte nie das Gefühl
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