Linda Lael Miller
Ruhe nachdenkst, tust oder sagst du vielleicht
etwas, was dir später leid tun könnte.«
Er setzte
sich und streckte die langen Beine aus. Lange Zeit schwieg er, starrte
nachdenklich auf seine abgeschabten Stiefelspitzen und stieß dann einen
tiefempfundenen Seufzer aus. »Verdammt«, sagte er, ohne Julia anzuschauen.
»Damit hatte ich nicht gerechnet. Daß sie zurückkommt, meine ich, ganz plötzlich
und ohne jede Vorwarnung.«
»Das dürfte
der Grund sein, warum sie es getan hat, zumindest teilweise«, antwortete Julia.
Sie war ruhig und gefaßt wie immer, als sie sich in einem Sessel ihm gegenüber
niederließ, ungemein grazil und anmutig. Sie war die beste Freundin, die er je
gehabt hatte, und nicht zum ersten Mal wünschte er sich, sie auf andere Art
geliebt haben zu können. »Annabel ist offensichtlich eine Frau, die die
Überraschung liebt ...« – sie hielt inne, kämpfte mit einem Lächeln und gab
sich dann geschlagen – »und großen Wert auf standesgemäße Beförderung zu legen
scheint.«
»Sie muß
wegen Nicholas gekommen sein«, sagte Gabe mehr zu sich selbst. Ihr Sohn,
Annabels und seiner, war neunzehn Jahre alt und ein wahrer Satansbraten. Gabe
fragte sich, wie der Junge, der seit zehn Tagen allein durch die Berge
streifte, auf die Heimkehr seiner Mutter reagieren würde. Annabel und Nicholas
standen sich nicht besonders nahe, soweit Gabe wußte, aber sie waren all die
Jahre in Kontakt geblieben und hatten sich geschrieben.
Nicholas
sprach nicht gern über Annabel oder das, was zwischen ihnen vorgefallen war;
wenn ein Brief mit ihrem Monogramm kam, pflegte der Junge ihn ungeöffnet
einzustecken und sich irgendwohin zurückzuziehen, um ihn zu lesen. Obwohl
Nicholas, der mit sieben schon genauso eigensinnig gewesen war wie heute,
Boston vom ersten Augenblick an gehaßt und prompt verlangt hatte, nach Nevada zurückgeschickt
zu werden, hatte er seine Mutter bestimmt vermißt. Gabriel wußte selbst am
besten, wie schwer es war, ohne Mutter aufzuwachsen, da seine in eine andere
Welt verschwunden war, bevor er auch nur seine Schuhe schnüren konnte.
»Vielleicht
ist sie tatsächlich wegen Nicholas gekommen«,
stimmte Julia zu – mehr aus Höflichkeit als aus Überzeugung, dachte Gabe.
»Dennoch scheint
mir, daß sie ihn gesucht hätte, wenn es so wäre. Was auch immer ihr
Anliegen sein mag, es scheint sie sehr nervös zu machen. Denn sonst brauchte
sie ganz gewiß nicht die Kavallerie zur moralischen Unterstützung.«
Gabe
seufzte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Er hatte bisher noch gar nicht
über Annabels militärische
Eskorte nachgedacht und angenommen, daß sie
zufällig in Fort Duffield vorbeigekommen war, als ein Regiment sich in diese
Richtung aufmachte. Es
war nichts Ungewöhnliches, daß die Armee Reisenden ihren Schutz anbot, vor
allem, wenn es sich um Damen von gesellschaftlichem Rang und Namen handelte,
wie bei Annabel.
»Als ich
das letzte Mal von ihr hörte«, sagte Gabe, »war sie in England und lebte in
Saus und Braus. Ich muß zugeben, daß ich verdammt gern wüßte, was sie veranlaßt
hat, den weiten Weg zu machen.«
»Du mußt
ihr die Wahrheit sagen, Gabe«, bat Julia. »Über uns, meine ich.«
Er schaute
sie an, die Frau, die in und um Parable von allen für seine Geliebte gehalten wurde.
Julias Mutter war
die Köchin und Haushälterin seines Vaters gewesen, nachdem seine eigene Mutter
entführt worden war, und hatte mit ihrer kleinen Tochter im Dachgeschoß des
Ranchhauses gewohnt.
Gabriel und Julia, zwei einsame Kinder, die
sogar in einem von Abenteurern und Gesetzlosen bevölkerten Land
Außenseiter gewesen waren, waren eine aufrichtigere
und tiefere Freundschaft eingegangen als die meisten Kinder. »Selbst wenn ich
der Meinung wäre,
daß sie ein Recht darauf hätte, die Wahrheit zu erfahren – was nicht der Fall
ist –, würde ich nicht meine Zeit damit verschwenden. Annabel würde mir ja doch
nicht glauben. Niemand würde das.«
Julia
betrachtete ihre feingliedrigen, schlanken Hände. So wie ihre Freundschaft
momentan beschaffen war,
diente sie ihrer beider Zwecke, aber ihr war nicht recht wohl dabei gewesen,
zumindest nicht im Hinblick auf Gabes Frau.
»Mrs.
McKeige ist noch immer deine Frau, Gabe.« »Mrs. McKeige hat mich und
unseren Sohn vor langer Zeit verlassen.«
Julias Ton
verriet Entschlossenheit, obwohl sie nach wie vor die Stimme nicht erhob. In
gewisser Weise,
dachte Gabe, ist sie Annabel sehr ähnlich, obwohl es seine Frau bestimmt
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