Linda Lael Miller
gehabt,
daß er sie wirklich brauchte, so selbständig, wie er gewesen war. So ganz
anders als die liebe, sanfte Susannah, seine Schwester.
Nicholas
war seinem Vater sehr ähnlich gewesen damals – und war es heute noch, wenn man
seinen seltenen Briefen Glauben schenken durfte. Sogar die Fähigkeit, ihr weh
zu tun, schien er von seinem Vater übernommen zu haben.
»Mrs.
McKeige?«
Die
vertraute Stimme riß Annabel aus Überlegungen, die Selbstmitleid gefährlich
nahekamen, und sie schaute auf zu Charlie > Gray Cloud < , der einige
Schritte entfernt auf der Veranda stand. Er war noch genauso, wie Annabel ihn
in Erinnerung hatte – untersetzt und stämmig, mit einer Küchenschürze um die
Taille und einem Kochtopf in der Hand. Nur eine Spur von Grau durchzog sein
kurzes schwarzes Haar, und obwohl sie weder seine Augen noch seinen
Gesichtsausdruck erkennen konnte, hörte sie freundschaftliche Zuneigung in
seiner Stimme mitklingen.
Sie
lächelte. »Hallo, Charlie«, sagte sie. »Wie schön, dich endlich wiederzusehen.«
Charlie
schien aufrichtig erfreut; er ging rasch zur Eingangstür, um sie für sie zu
öffnen. »Wir ... Ich habe Sie vermißt.«
Annabel
trat über die Schwelle und in das kühle Innere des Hauses. »Nicholas ist nicht
hier?« fragte sie und wartete mit angehaltenem Atem auf die Antwort, obwohl
sie sich im stillen für ihre übertriebenen Erwartungen schalt. Sie waren im
Lauf der Jahre weitergekommen, sie und Nicholas, aber es lag immer noch ein
weiter Weg vor ihnen.
Charlie
schüttelte den Kopf. »Dieser verrückte Junge – er streift ständig durch die
Berge. Er glaubt, er wäre ein Indianer.«
Annabel
unterdrückte einen Anflug von Enttäuschung und rief sich noch einmal ins
Gedächtnis, daß sie Nicholas nichts von ihrem Besuch geschrieben hatte und
daher auch nicht erwarten konnte, daß er hier war und sie empfing. »Ich wäre
dir dankbar, wenn du eine Schüssel Wasser für mich hättest«, sagte sie, während
sie ihre Glacéhandschuhe abstreifte und sie in ihre Tasche legte.
Charlie
deutete mit dem Kopf zur Treppe. »Ich bringe es in Ihr Zimmer, Mrs. McKeige«,
sagte er und war fort, bevor Annabel widersprechen und sagen konnte, daß sie es
vorziehen würde, sich in dem kleinen Waschraum neben der Küche zu erfrischen.
Draußen vor
den Haus bellten die Hunde, als ein Reiter in den Hof galoppierte.
Annabel
eilte die Treppe hinauf und über den breiten Gang zum Schlafzimmer des
Hausherrn. An der Tür blieb sie stehen, überwältigt von Erinnerungen, die
leichter zu ertragen gewesen wären, wenn sie bitter wären anstatt süß, bevor
sie die Türklinke herunterdrückte und den Raum betrat.
Das große
Doppelbett befand sich noch am selben Platz wie früher, zwischen zwei großen
Fenstern. Ihr eigener Kleiderschrank stand an einem Ende des Raums und Gabriels
am anderen, genau wie früher. Neben dem mächtigen Kamin stand ihre Harfe, das
wundervolle Instrument, das Gabriel ihr zu ihrer Hochzeit geschenkt hatte.
Ein Engel,
hatte er gesagt, müsse eine Harfe haben ...
Das Gebrüll
von unten erschreckte Annabel so heftig, daß sie einen leisen Schrei ausstieß
und mit einer Hand an ihre Kehle griff.
»Charlie!«
schrie Gabriel noch einmal.
Annabel
fuhr herum und erschrak von neuem, denn Charlie stand in der Tür und reichte
ihr stumm die versprochene Schüssel mit dem Wasser, die er jedoch nicht eher
losließ, bis ihre Hände nicht mehr zitterten. Die angeborene Gelassenheit, die
der Indianer ausstrahlte, beruhigte Annabel ein wenig; dankbar nickte sie ihm
zu, als sie die Schüssel nahm.
Charlie
ging hinaus und schloß die Tür.
Während
Annabel mit kaltem Wasser ihr Gesicht befeuchtete, legte sie sich – zum
tausendsten Mal vielleicht inzwischen schon – die Worte für die kleine Rede
zurecht, mit der sie Gabriel überzeugen wollte.
Wieder
erklang unten seine laute Stimme, gefolgt von Charlies ruhigen, besonnenen
Erwiderungen.
Du hast dir
wahrscheinlich etwas vorgemacht, dachte Annabel, falls du je geglaubt hast,
Überredung wäre nötig. Nur eins könnte noch schlimmer sein als Gabriels
sofortige Verweigerung ihrer Bitte – und das wäre seine prompte Zustimmung zu
ihrem Vorschlag.
»Annabel
Latham-McKeige«, murmelte sie vor Gabriels Rasierspiegel, während sie ihr
Gesicht abtrocknete, »du bist wirklich eine Närrin.«
Gabriel
stand am Fuß der Treppe, eine Hand auf dem Geländer, als sie aus dem Zimmer
kam.
Nur unter
Aufbietung ihrer ganzen Willenskraft gelang es ihr,
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