Linda Lael Miller
küßte er sie noch einmal, diesmal sehr viel zärtlicher, und zog
sich dann aus ihr zurück. Während Annabel noch immer dalag und nach Atem rang,
zog er seine Hosen, sein Hemd und seine
Stiefel an, nahm seinen Hut und Waffengurt und ging hinaus, um seine Arbeit zu
beginnen.
Annabel
beeilte sich beim Anziehen – der Morgen war nicht gerade ihre beste Zeit, aber
heute konnte sie sich nicht den Luxus leisten liegenzubleiben. Nicht mitten in
einem Auftrieb mit Rindern, Pferden und Cowboys, die ihr Tagewerk bereits
begonnen hatten. Laute Geräusche draußen, das Klirren von Metall und der
Hufschlag vieler Pferde ließen darauf schließen, daß die Kavallerie gekommen
war, um die Rinder abzuholen, und das Lager nun auch noch voller Soldaten war.
Hastig zog
Annabel sich an und steckte ihr zu einem Zopf geflochtenes Haar zu einer Krone
auf. Dann, nach einem tiefen Atemzug, um Mut zu sammeln, trat sie in den neuen
Tag hinaus. Kaum hatte sie das Zelt verlassen, kamen sofort zwei Cowboys herüber,
um es abzubauen.
»Morgen,
Mrs. McKeige«, sagte der Koch, als sie sich dem Lagerfeuer näherte, und bot ihr
einen Becher Kaffee und einen Teller mit Resten des Schweinefleischs vom
Vorabend an.
Ihr wurde
unerklärlich übel bei dem Anblick, und sie schüttelte den Kopf und griff nach
dem Rad des Küchenwagens, um sich festzuhalten. »Nein, danke«, erwiderte sie,
so höflich, wie es ihr in diesem Zustand möglich war. »Aber wenn Sie etwas
Wasser hätten ...«
Der
grauhaarige Mann nahm den Deckel von einem Holzfaß, das an der Seite des
Karrens befestigt war, und bot ihr eine Kelle Wasser an. Annabel betrachtete
den Schöpflöffel zuerst mißtrauisch, nahm ihn dann aber und trank, und das
lauwarme Wasser beruhigte ihren Magen ein wenig.
»Besser,
Mrs. McKeige?« fragte der Koch und beugte sich vor, um ihr prüfend ins Gesicht
zu schauen. Sein Atem, der nach Whiskey und faulen Zähnen roch, verursachte ihr
solche Übelkeit, daß sie fast hinter den Wagen gestürzt wäre, um sich zu
übergeben. »Soll ich den Boß holen?«
»Nein,
bitte nicht«, protestierte sie. »Bemühen Sie sich nicht. Es geht mir gut.« Ganz
gleich, wie schlecht es ihr auch ging, sie würde nicht die Primadonna spielen
und Gabriel an der Arbeit hindern. Das hätten ihr Stolz und ihre ausgeprägte
Selbstbeherrschung niemals zugelassen.
Nachdenklich
strich sie mit den Händen über ihren Hosenrock – im Gegensatz zu vielen anderen
Frauen, die sich im stillen danach sehnten, Hosen zu tragen, kleidete Annabel
sich lieber feminin, mit Rüschen, Samt und Spitze. Obwohl sie eine ausgezeichnete
Reiterin war und sehr eigenwillig und temperamentvoll, war nichts Männliches
an Annabel. Sie war froh und glücklich, eine Frau zu sein, und hielt es sogar
für das bessere Schicksal, weil Mut, Kraft und Intelligenz für sie ebensosehr
weibliche wie männliche Eigenschaften waren. Und weil das weibliche Geschlecht
zudem noch mit vielen anderen guten Gaben ausgestattet waren, die bei Männern
seltener waren, wie Intuition, Beharrlichkeit, Vernunft und Mitgefühl.
Annabel
krümmte sich innerlich vor Verlegenheit, als Captain Sommervale in seiner
eindrucksvollen, wenn auch etwas staubigen Uniform in ihre Richtung kam. Sein
Haar und Bart schienen frisch gestutzt zu sein, und er war offenbar bereits am
Bach gewesen, um sich nach dem langen Ritt zu waschen, denn sein Gesicht war
noch gerötet von dem kalten Wasser. Seine Männer hatten sich unter die Cowboys
gemischt, tranken mit ihnen Kaffee und unterhielten sich leise mit ihnen,
während das erste Tageslicht den Himmel rötlich färbte.
»Guten
Morgen, Mrs. McKeige«, sagte er freundlich und tat, als bemerkte er Annabels
zerknitterte Kleidung und ihre auch sonst etwas vernachlässigte Erscheinung
nicht. Sie merkte plötzlich, daß sie sich noch immer am Wagenrad festhielt, war
aber nicht imstande, es wieder loszulassen.
»Captain
Sommervale«, erwiderte sie mit einem Nicken und straffte die Schultern, um eine
würdevolle Haltung anzunehmen. Sie durfte vor diesem Mann keine Schwäche
zeigen; er war möglicherweise derjenige, der Nicholas' Schicksal in den Händen
hielt, und es lag bei ihr, ihm klarzumachen, daß ihr Sohn kein Viehdieb war.
»Ich hoffe,
daß die Unbequemlichkeiten dieser Reise Ihnen nicht zu sehr zu schaffen
machen«, sagte er mit aufrichtiger Besorgnis in der Stimme.
Annabel war
verlegen und genierte sich ein wenig, weil sie ziemlich sicher war, daß
inzwischen alle wußten, was in der Nacht im Zelt
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