Linda Lael Miller
verhindern konnte.
»Nein«,
antwortete Jessie. »Jedenfalls nicht so, wie Sie denken mögen. Olivia – ich
darf Sie doch Olivia nennen? –, ich gebe zu, daß Nicholas ein sehr charmanter
und attraktiver junger Mann ist. Doch neben seiner äußeren Erscheinung und
seiner wachen Intelligenz hat er etwas Geheimnisvolles, Mysteriöses an sich –
man kann nie sicher sein bei ihm, ob man einen Teufel oder einen Engel vor sich
hat. Ich schätze, daß er höchstwahrscheinlich beides ist.«
Jessie
unterbrach sich, um zu seufzen, schraubte dann den Deckel eines Einmachglases
ab und goß duftenden Tee in zwei zierliche Porzellantassen. »Olivia, ich kenne
keinen anderen Weg, als es Ihnen ganz direkt zu sagen: Man kann Nicholas nicht
vertrauen – zumindest nicht in Liebesdingen. Er hat mehr Frauen verführt, als
ich Ihnen nennen könnte – einige waren in seinem eigenen Alter, andere erheblich
älter –, und ihnen dann das Herz gebrochen. Ich möchte nicht, daß er das
gleiche auch bei Ihnen tut.«
Olivia wäre
am liebsten aufgesprungen und geflohen, aber sie nahm sich zusammen und umklammerte
die Lehne ihres Stuhls so fest, daß ihre Knöchel weiß hervortraten. Ihr war
klar, daß ihre Wangen glühten und verrieten, was sie viel lieber verborgen
hätte, aber das war leider nicht zu ändern.
»Ich werde
versuchen, vorsichtig zu sein«, versprach sie mit einer Art hoffnungsloser
Tapferkeit. Wie lange machte Nicholas diese Eroberungen schon? Er war doch kaum
mehr als ein Junge!
Ganz
gleich, wie viel oder wenig Erfahrung er auch haben mochte, sein Charme war
jedenfalls beträchtlich, und Olivia wußte, daß sie ihm nicht lange widerstehen
würde. Vielleicht wollte sie es in Wirklichkeit auch gar nicht, trotz der
unvermeidlichen Qual, die daraus resultieren würde: Sie hatte fast dreißig
Jahre als Jungfrau gelebt und wollte, wenn sie schon keine wahre Liebe und Ehe
haben konnte, wenigstens einmal in ihrem Leben Leidenschaft erfahren, egal,
wie flüchtig oder kostspielig dies auch sein würde.
Jessie
schüttelte den Kopf. »Es zu versuchen, reicht nicht«, sagte sie, griff nach
einem Sandwich und biß mit Appetit hinein. Sie kaute endlos lange, schluckte
dann endlich und sprach weiter: »Sie müssen bei Nicholas sehr entschieden sein.
Sagen Sie ihm ganz unverblümt, daß seine Flirtversuche Ihnen nicht willkommen
sind.«
Olivia nahm
eins der Häppchen, die Jessie auf einem Goldrandteller arrangiert hatte,
betrachtete es zerstreut und legte es wieder zurück. »Aber das stimmt ja gar
nicht.«
»Meine
liebe Olivia«, erwiderte Jessie seufzend, »wenn Sie Ihren Vertrag brechen
würden, um zu heiraten, wären Sie nicht die erste Lehrerin, die so etwas tut.
Gabriel und ich würden schon irgendwie einen Ersatz finden. Aber suchen Sie
sich einen anderen Mann aus, jemanden, der älter und seriöser ist – einen
netten Witwer beispielsweise.« Sie schnappte plötzlich mit den Fingern, und ihr
klassisch schönes Gesicht
errötete. »Ich kenne genau den Richtigen für Sie, Olivia! Er heißt Alexander
Wallingford und hat eine gute Position als Aufseher in einer von Gabriels
Silberminen – er ist Ingenieur, wenn ich mich recht entsinne. Er hat seine Frau
vergöttert, aber sie ist vor etwa fünf Jahren an einer Herzkrankheit
gestorben.«
Olivia
wußte selbst nicht, woher sie den Mut nahm, auszusprechen, was sie dazu dachte.
»Vielleicht sollten Sie lieber selbst diesen Mr. Wellingford heiraten, Miss
McKeige, wenn Sie ihn so empfehlenswert finden.«
Jessie sah
für einen Moment so aus, als wäre sie geschlagen oder mit kaltem Wasser
übergossen worden. Aber im nächsten Augenblick schon, dem Himmel sei Dank
dafür, mußte sie erkannt haben, daß Olivias Worte nicht boshaft gewesen waren,
sondern schlicht und einfach eine Feststellung.
»Das könnte
ich nicht«, sagte sie und errötete sogar noch heftiger als vorher, als ob
irgendeine innere Flamme in ihr entzündet worden wäre.
Olivia
dachte, daß die innere Genugtuung, die sie verspürte, durchaus verzeihlich war.
Es kam nämlich nur äußerst selten vor, wie sie inzwischen herausgefunden
hatte, daß ein McKeige sich aus der Fassung bringen ließ, und wenn das geschah,
tat man gut daran, diesen kleinen Triumph auszukosten.
»Aber warum
denn nicht?« fragte Olivia ehrlich interessiert. Erstaunlicherweise war ihre
Kehle jetzt nicht mehr wie zugeschnürt, und auch in ihrem Magen rumorte es
nicht länger. Sie war jetzt sogar hungrig und knabberte an dem kleinen
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