Lindenallee
konnte es ihm nicht verdenken.
Er rieb sich grübelnd das stoppelige Kinn. „Also gut. Ich will es versuchen. Meine Kinder wachsen zurzeit wie die Wildfänge auf und denken nicht daran, über ihren Büchern zu sitzen. Das muss sich ändern. Auch in der Wildnis müssen sie Lesen und Schreiben können. Die Buchführung macht sich schließlich nicht von alleine. Und meine Frau braucht Hilfe in der Küche, vor allem um die Viehtreiber bei Laune zu halten. Ihr Essen ist grauenhaft, muss ich leider erwähnen.“ Er zwinkerte uns zu. „Die Männer arbeiten auf der Weide. Rinder einfangen, brandmarken, Hufpflege, all so etwas. Die Zäune müssen erneuert, die Gebäude und Stallungen ausgebessert werden. Es gibt genug zu tun.“
Mein Vater trat auf den Mann einen Schritt zu und streckte ihm die Hand entgehen. „Vielen Dank, Herr?“
„ Langenfeld. Karl Langenfeld.“ Er schüttelte meinem Vater die Hand. „Morgen um sechs Uhr brechen wir auf. Wenn Sie nicht pünktlich sind, gehen wir ohne Sie, verstanden?“
Mein Vater nickte. Diese Chance würde er nicht ungenutzt verstreichen lassen.
„ Und jetzt muss ich mich um die Verladung der Rinder kümmern.“ Er tippte sich zum Gruß an den Hut und verschwand in einer niedrigen Baracke, die in der Nähe des Gatters stand.
Erleichtert traten wir den Weg zu unserer Pension an und packten unsere paar Habseligkeiten zusammen. Meine Mutter zählte das Geld, welches wir noch besaßen. Es war nicht mehr viel, aber für die Arbeit auf einer Farm brauchten wir geeignete Kleidung. Wir waren sozusagen in guten Stadtsachen mit dem Schiff untergegangen, die auf einer Farm nicht lange halten würden. Also gingen wir ein letztes Mal in die Stadt, um solide Schuhe, Hosen, auch für meine Mutter, Hemden und robuste Jacken zu erstehen. Ich glaube, meine Mutter hat noch nie so grobe Kleidung getragen. Der Stoff fühlte sich rau auf der Haut an. Ich vermute sie war den Tränen nahe. Wie schnell sich das Leben doch wandeln kann!
Abends saßen wir zusammen in dem kleinen Zimmer, in dem wir seit unserem Schiffbruch auf zusammengeschobenen Matratzen geschlafen hatten. Die Stimmung war bedrückend, wir würden den nächsten Morgen in eine ungewisse Zukunft aufbrechen. Wir brachen jeglichen Kontakt mit Deutschland ab. Freunde, Verwandte, geliebte Gewohnheiten und die vertraute Umgebung war schlagartig nicht mehr da. Ich konnte nicht fassen, was geschah. Vor ein paar Tagen wähnte ich mich sicher in Lucklum und dann brach Chaos und Verwirrung über mich herein.
Am nächsten Morgen standen wir pünktlich am vereinbarten Treffpunkt. Das Gatter war leer, nur die Hinterlassenschaften der Rinder im Staub zeugten von ihrer Anwesenheit den Tag zuvor. Betreten kickte ich mit dem Fuß Steinchen gegen die Pfosten des Gatters.
„ Was ist, Friedrich?“, fragte meine Mutter leicht ungehalten. Ihre Stimmung war wie meine gereizt.
„ Ich wollte Magarete schreiben, jetzt habe ich keine Zeit mehr. Ich mache mir Sorgen sie denkt, ich hätte sie vergessen.“ Traurig sah ich meine Mutter an, die mir trotz ihrer schlechten Laune liebevoll die Haare aus der Stirn strich.
„ Wenn wir auf der Farm sind, wirst du Zeit dafür finden, ja?“ Aufmunternd blickte sie mich an.
Ich schluckte und nickte niedergeschlagen. Hätte ich gewusst, dass dieses Städtchen das letzte an Zivilisation sein würde, was ich in den nächsten Monaten zu Gesicht bekam, ich hätte die halbe Nacht wach gelegen, um Magarete einen, nein, Dutzende Briefe zu schreiben. Morgens hätte ich den Postmeister aus dem Bett geklingelt und ihm die Briefe zum Versenden gegeben.
So brachen wir unverrichteter Dinge mit Herrn Langenfeld und vier seiner Arbeiter auf. Dazu gesellten sich ein Wagen, der von zwei großen, schweren Pferden gezogen wurde und ein dürrer Junge auf dem Kutschbock, der die Pferde unentwegt mit schnalzenden Geräuschen antrieb.
Ich dachte ernsthaft, unsere Reise würde ein paar Stunden dauern, ehe wir am Ziel ankommen würden. Ich sollte mich grundlegend täuschen. Mit der Geografie von Argentinien hatte ich mich eindeutig zu wenig befasst. Ich hätte nie gedacht, dass ein Land in Südamerika so groß sein könnte. Heute weiß ich, dass zum Beispiel Brasilien noch bedeutend größer ist, aber von meinen bescheidenen Kenntnissen aus Deutschland ausgehend glaubte ich tatsächlich, die Farm wäre um die Ecke. Ich wurde wie gesagt eines Besseren belehrt.
Die meiste Zeit liefen wir zu Fuß neben dem Wagen her. Das vollbeladene
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