Lindenallee
blieben. Ich wollte nur auf ein Schiff und zurück zu Magarete. Ich hatte deswegen ein schlechtes Gewissen, weil es mir sehr egoistisch vorkam. Meine Eltern hatten ihr Leben für die Flucht riskiert und ich war so undankbar!
Ich selbst traf keine Entscheidung, das Schicksal fällte sie für mich.
Wir folgten also dem Tross von Tieren und Reitern, wichen dampfenden Haufen aus und gaben uns große Mühe, mit ihnen Schritt zu halten. Die Tiere sahen aus, als ob sie einen langen Weg zurückgelegt hatten. Dennoch schritten sie kraftvoll aus, obwohl sie doch spüren mussten, dass ihr Ziel sie ihrer endgültigen Bestimmung zuführte.
In der Nähe des Hafens trieben die Reiter die Herde in einem Gatter zusammen. Die Unruhe der Rinder ließ sie eine Weile im Kreis laufen, ehe sie ihren Schritt verlangsamten und der aufgewirbelte Staub ermattet zu Boden sank.
Mein Vater beobachtete die fünf Reiter aufmerksam, die absaßen und ihre Reittiere anbanden. Ein groß aufgewachsener Mann gab Anweisungen, die Pferde und Rinder mit Wasser zu versorgen.
Mein Vater näherte sich mit meiner Mutter und mir im Schlepptau dem Vorarbeiter.
„ Guten Tag, entschuldigen Sie die Störung. Wir haben mitbekommen, dass Sie Deutscher sind“, begann mein Vater zaghaft das Gespräch.
Der Mann schob sich den breitkrempigen Hut in den Nacken und blickte meinen Vater abschätzend an. „Richtig.“
Mehr sagte er nicht. Er kaute etwas im Mund und schob die Masse von einer zur anderen Seite, dabei beulte sich seine Wange kugelförmig aus.
„ Mein Name ist Franz Mendelssohn. Das sind meine Frau Judith und mein Sohn Friedrich. Wir sind vor ein paar Tagen mit dem Schiff angekommen. Wir wurden gegen die Klippen geschleudert und sind mit dem Leben davongekommen.“
Der Mann blickte meinen Vater ungerührt an. „Die Klippen sind bei Sturm tückisch. Habe noch gar nichts davon gehört. Vom Schiffsunglück. Bei uns auf der Farm kriegen wir nicht viel mit, nur wenn wir in die Stadt kommen, um unsere Rinder zu verkaufen.“ Er spuckte eine Ladung dunklen Kautabaks zu Boden. Dann sah er uns stoisch gelassen an.
Meine Mutter merkte, dass das Gespräch der beiden Männer nicht richtig in Schwung kam. Sie ergriff die Initiative, indem sie hinter meinem Vater hervortrat und das Wort an den Unbekannten richtete.
„Wir befinden uns in einer Notsituation. Wir haben so gut wie alles verloren, das Geld reicht nicht mehr lange und dann sitzen wir auf der Straße.“ Sie holte tief Luft, denn es fiel ihr nicht leicht, um Hilfe zu bitten. Sie war es nicht gewohnt und hatte immer durch eigene Kraft erreicht, was sie wollte. Die Situation in Argentinien stellte sie vor eine große Herausforderung, das Leben unter den widrigsten Umständen in den Griff zu bekommen. Sie wusste, es würde nicht mehr so sein, wie es je gewesen war. Gefasst fuhr sie fort. „Wir suchen eine Anstellung.“ Sie schluckte, denn sie wurde sich der Tragweite ihrer Worte bewusst. „Wir machen alles.“ Sie senkte verzweifelt den Kopf, um dem durchdringenden Blick des Mannes auszuweichen.
Er starrte sie lange ohne eine erkennbare Gefühlsregung an, ehe ein Ausdruck des Zweifels über das wettergegerbte Gesicht huschte. „Was können Sie denn? Sie sehen nicht so aus, als ob Sie für die Farmarbeit geeignet wären“, sprach er unbarmherzig seine Gedanken aus. „Was haben Sie in Deutschland gemacht?“
Meine Mutter reagierte gefasst und antwortete schnell, ohne nachzudenken. „Ich war Lehrerin. Aber das ist Vergangenheit. Ich kann mich an die Arbeit auf einer Farm gewöhnen. Ich kann Kochen, im Garten arbeiten und mit den Rindviechern komme ich schon klar.“
Überraschend entlockte meine Mutter dem Unbekannten ein kehliges Lachen. „Mit den Rindviechern kommen Sie schon klar! Ich hoffe, Sie meinen die Tiere und nicht die Menschen.“
Das belustigte Lächeln nahm dem Fremden das Unnahbare und ließ ihn das erste Mal sympathisch erscheinen.
„ Und was kann Ihr Mann? Und der Junge?“
Mein Vater zog mich zu sich heran, während er sich mit dem Finger gegen die Brust tippte. „Ich bin auf dem Land aufgewachsen und kenne mich mit Tieren aus. Und mein Sohn wird es lernen.“ Er legte viel Zuversicht in die Stimme, die er im Innersten vermutlich nicht spürte. Er drückte mich aufmunternd, so als ob er sich selbst Mut zusprechen wollte.
Der Mann bedachte uns mit einem überlegenden Blick. Er wog ab, ob es sich lohnen würde, uns mit auf seine Farm zu nehmen und uns Arbeit zu geben. Ich
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