Lindenallee
Warnsignal. Wir hatten keine Zeit mehr, wir durften nicht entdeckt werden.
Diesmal nahm ich seine Hand und kam ihm näher. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss. Wir standen da, die Welt um uns herum hörte auf sich zu drehen. Ich spürte nur diese warmen Lippen, ich vergaß zu atmen. Ein schwindelerregendes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus.
Der zweite Warnpfiff trennte unsere Lippen voneinander. Ich blickte ihn an, auf seinem Gesicht spiegelten sich seine Gefühle wieder. Er war genauso glücklich wie ich. Ich ließ seine Hand los und begann in Richtung Heinz zu rennen. Einmal drehte ich mich noch zu Friedrich um. Er stand unbewegt da und sah mir hinterher.
Mein Herz pumpte wild, als ich die Lindenallee hinunterrannte und das lag nicht ausschließlich am Laufen. Ich hatte das erste Mal Friedrich geküsst. Ich war verwirrt und glücklich zugleich. Mein Brustkorb wurde fast von meinem hüpfenden Herz gesprengt, so ging es mit mir durch.
Abends zeigte ich mein Geschenk Heinz. Meine Eltern durften nie erfahren, dass mir Friedrich ein so kostbares Geschenk gemacht hatte. Sie hätten nie zugestimmt, dass wir uns näher kamen.
Fortan hütete ich mein Geschenk wie einen Schatz. Ich trug die Kette immer und achtete darauf, dass sie niemand zu Gesicht bekam.
Mein Leben erschien mir perfekt und glücklich. Was sollte schon passieren?
Magarete stand vom Sofa auf und streckte sich vorsichtig. „Ich muss mich etwas bewegen, sonst rosten die alten Knochen zu sehr ein." Sie bewegte sich langsam auf den Sekretär zu, auf dem die vielen Fotos standen.
Langsam zog sie eine kleine Schublade auf und nahm etwas heraus. Sie schien einen Moment zu überlegen, bevor sie sich zu Paula umdrehte. „Heute trage ich es nicht mehr, aber ich sehe es mir immer wieder gerne an."
Paula stand auf und entdeckte in der Hand von Magarete einen alten, etwas verblichenen Stoff. Geübt wickelte Magarete den Gegenstand aus und das silberne Herz kam zum Vorschein.
„Es ist fast wie beim ersten Mal, die Aufregung dieses wunderbare Geschenk in den Händen zu halten."
„Darf ich es mir ansehen?", fragte Paula schüchtern. Magarete nickte. Paula nahm es ihr aus der Hand und bewunderte das silberne Herz, das aus feinen, dünnen Silberdrähten schwungvoll gestaltet war. Es wirkte zerbrechlich. Vorsichtig gab sie es Magarete zurück. „Ein wundervolles Schmuckstück. Mit viel Liebe ausgewählt.“
Magarete wickelte es langsam wieder ein. „Als er es mir schenkte wusste ich, dass wir füreinander bestimmt waren. Er fühlte wie ich. Später wurde es zu meiner Hoffnung, ihn jemals wiederzusehen." Traurig legte Magarete das Schmuckstück in den Sekretär und schloss die Schublade.
Paula fühlte, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür war, zu fragen, wie es mit ihr und Friedrich weitergegangen war. Sie vermutete, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.
Sie wandte sich den gerahmten schwarz-weiß-Aufnahmen zu. „Das bist du, mit den langen Zöpfen und dem frechen Lächeln, richtig?" Paula zeigte auf ein Foto, auf dem offensichtlich Magarete zu sehen war. Sie trug ein kurzärmliges Kleid, die Hände in die Hüften gestemmt, sah sie den Fotografen herausfordernd an. Neben ihr stand ein Junge, der ähnliche Gesichtszüge wie Magarete erkennen ließ. „Und das ist Heinz?"
Magarete blühte bei der Betrachtung der Fotos auf und lachte. „Ja, das stimmt. Mein Onkel war damals bei uns aus der Stadt zu Besuch und seine Leidenschaft war das Fotografieren. Wir kamen uns wie berühmte Stars vor, die abgelichtet wurden. Ein Riesenspaß."
„Du hast dich seitdem nicht verändert", stellte Paula fest.
Magarete reagierte überrascht. „Findest du? Es ist so viel passiert, das hinterlässt Spuren."
„Das mag sein, aber ich erkenne in dir immer doch dieses Mädchen, den Blick, die Frechheit, die Lebenslust."
Magarete freute sich insgeheim über die Komplimente von Paula, reagierte aber reserviert. „Ach, ich weiß nicht, ich bin doch eine alte Schachtel, schrullig."
„Quatsch. Und das weißt du." Paulas Blick blieb an einem anderen Bild hängen. Sie streckte die Hand danach aus, zögerte und sah Magarete fragend an.
„Nimm es ruhig."
Paula griff nach dem alten Bilderrahmen und sah es sich genau an. Da waren wieder die beiden Geschwister, aber neben Magarete stand ein hoch aufgeschossener Junge, dem die Haare ins Gesicht fielen. Er blickte in die Kamera und lächelte glücklich. Er stand dicht neben Magarete,
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